Brexit erst im Januar - und dann?
Großbritannien hat sich im Brexit-Prozess eine Atempause verschafft: Im Dezember wählt das Land ein neues Parlament, der Termin für den Austritt aus der EU ist mit Zustimmung Brüssels auf den 31. Januar 2020 verschoben, die Chance auf einen Deal bleibt. Europas Kommentatoren wenden sich möglichen Szenarien nach erfolgter Trennung zu.
Der EU entkommt so schnell keiner
Der Politologe Víctor Lapuente skizziert in El País die Europäische Union als imposante konservative Macht, die Veränderungen nicht duldet:
„Die Briten haben vor mehr als drei Jahren beschlossen, dass sie austreten wollen. Und sie sind immer noch drin. Und selbst wenn sie irgendwann austreten sollten, werden sie wohl durch unzählige europäische Regulierungen gebunden bleiben. ... Die EU hat bei der katalanischen Krise, beim Brexit und bei der Griechenland-Frage gezeigt, dass sie alles andere ist als ein brüchiger Club kurz vor der Auflösung. ... Alles was sie anfasst, wird zu Stein. Ihre Ingenieure - nicht die Politiker, sondern die Beamten - haben ein dichtes Netz aus Regulierungen und Verpflichtungen gewebt, dem keiner entkommt. Vielleicht geht diese europäische Titanic eines Tages unter. Aber bis dahin darf niemand von Bord.“
Brexit Fatigue lähmt Vorbereitungen der Wirtschaft
Der Brexit macht den Unternehmen insbesondere wegen der damit verbundenen Ungewissheit zu schaffen, glaubt Kauppalehti:
„Selbst das ehrgeizigste Handelsabkommen ersetzt keinen Binnenmarkt. Die Situation ist absurd: die Verhandlungspartner verhandeln über Handelsverträge, die dazu führen, dass sich der Handel erschweren wird und sich die Partner voneinander entfernen werden. ... Die Unternehmen haben viel Zeit und Geld in die Vorbereitung auf den Brexit investiert. Dennoch weiß niemand genau, wie man sich vorbereiten soll. Die allgemeine Stimmung ist geprägt von Müdigkeit, was keine gute Ausgangsbasis für den Moment ist, wenn der Brexit tatsächlich vollzogen wird.“
Auf David Camerons Spuren
Johnson könnte nach dem Brexit an die Politik seines Vorvorgängers anknüpfen, erklärt die Politologin Melanie Sully in der Wiener Zeitung:
„Die vergangenen dreieinhalb Jahre haben doch sehr viel Bewegung mit sich gebracht und waren keineswegs leere Kilometer. Mit Johnsons Deal blicken wir mehr in die Zeit nach dem Brexit. Vieles muss noch ausverhandelt werden, aber einige Trends sind klar. Schottland wird so oder so seinen eigenen Weg gehen. Auch ohne Unabhängigkeit kann sich Schottland von London abwenden und sich ans EU-Recht anpassen. Für Nordirland sieht Johnsons Deal einen Sonderstatus vor. Der Premier selbst wird wohl den englischen Konservatismus vorantreiben, der einen dritten Weg anstrebt zwischen Marktwirtschaft und Verstaatlichung. Im Endeffekt ist dies das unvollendete 'Modernisierungsprogramm' von Ex-Premier David Cameron. Ob Johnson mehr Erfolg haben wird, wird sich weisen.“