Covid-19 enthüllt Schwächen des Wirtschaftssystems
Länder mit besonders liberaler Wirtschaftsordnung wie Großbritannien oder die USA sind zur Zeit besonders stark von der Pandemie betroffen. Und obwohl die Auswirkungen der Krise auf die Weltwirtschaft überall zu spüren sind, bleiben die globalen Finanzmärkte bisher vergleichsweise stabil. Für Kommentatoren alles Hinweise auf die dysfunktionalen Aspekte unserer derzeitigen Ökonomie.
Briten und Amerikaner sind größte Verlierer
Dass gerade Großbritannien und die USA so hart vom Virus getroffen wurden, überrascht The Guardian nicht:
„Als Covid-19 kam, fehlten beiden Ländern nicht nur die Politiker, sondern auch die Bürokratien, die nötig gewesen wären, um effektiv zu reagieren. ... Der angloamerikanische Kapitalismus, der sowohl von der politischen Rechten als auch von der gemäßigten Linken forciert wird, eine möglichst schlanke Regierung zum Ziel hat und vom Glauben an die eigene Überlegenheit getrieben ist, hatte das staatliche System unbrauchbar gemacht. Keine Prognose, keine Warnung hätte die Regierungsmaschinerie schnell genug umgestalten können, um Leben zu retten. Ein wirtschaftliches und politisches Modell, das auf Privatisierung, Liberalisierung und dem Entzug von Arbeitsrechten aufbaut, schuf ein System, das besonders anfällig für alle möglichen Krisen ist - wobei es gerne heißt, dass solche Schocks einmalig seien.“
Börsenkurse von Realwirtschaft losgelöst
Avvenire hofft, dass die Pandemie die Finanzhändler zum Umdenken anregt:
„Trotz Verlusten durch die Pandemie und sogar sinkender Ölpreise liegt der Dow Jones nur wenige Punkte unter den absoluten Höchstständen, die er zu Beginn des Jahres erreicht hatte. … Denn die Werte der börsennotierten Unternehmen sind völlig losgelöst von jeglichen unternehmerischen oder makroökonomischen Parametern. ... Es ist sinnlos, sich auf die Selbstregulierungsmechanismen eines selbstreferentiellen Systems zu verlassen, in der die Datenströme selbst inmitten eines Pandemieschocks die Verbindung dazu verloren haben, was ihnen zugrunde liegt. ... Setzen wir hingegen unsere Hoffnung in die Personen aus Fleisch und Blut, die in diesem System leben: Die Händler, auf die etwas Unsichtbares - und damit Störendes - wie ein Virus die Wirkung haben könnte, die unermesslich gewordene Distanz neu zu definieren.“
Gnadenstoß für Bullshit-Jobs
Die Krise befördert die Transformation der Arbeitswelt, glaubt Soziologe Julien Damon in Les Echos:
„Die Ausweitung der Telearbeit und das Zelebrieren der nützlichen Berufe führen zu einer drastischen Neubetrachtung unnützer Aufgaben. All die Tätigkeiten, die in der abwertenden Bezeichnung 'Bullshit-Jobs' vereint sind, werden noch nutzloser als zuvor erscheinen. … Die Rückkehr in die Arbeitsräume mit körperlicher Nähe auf teils sehr engem Raum erweist sich als problematisch: kurzfristig aus gesundheitlichen Gründen, langfristig wegen der Umwälzung der gesamten Arbeitswelt in Richtung einer Aufwertung nützlicher Aufgaben und individualisierter Organisationen. Klar, frühere 'Bullshit-Jobs' werden das Heer der Arbeitslosen vergrößern. Wünschen wir den Betroffenen, dass sie bald sinnvollere Aufgaben finden!“