75 Jahre Uno-Charta: Multilateralismus in der Krise?
Vor 75 Jahren, am 26. Juni 1945, haben 3000 Delegierte aus 50 Ländern in San Francisco die Charta der Vereinten Nationen unterzeichnet. Kommentatoren nehmen das Jubiläum zum Anlass für eine Erfolgsbilanz der Uno und stellen die Frage, welchen Stellenwert die internationale Zusammenarbeit in der heutigen Politik hat.
Wichtiger als je zuvor
Die Uno hat sich als stabile und wirksame Institution erwiesen, zieht The Economist Bilanz:
„Ihre Mitgliederzahl ist durch Entkolonialisierung und den Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens auf 193 angewachsen. Sie hat sich zu einer Organisation für Friedenssicherung und humanitäre Hilfe entwickelt. Und es hat keinen neuen Weltkrieg mehr gegeben. ... Die Uno hatte keinen Mangel an Skandalen und dunkle Momente wie den Genozid in Srebrenica. In jüngster Zeit wird ihr von Kritikern eine Schwäche in Sachen Menschenrechten vorgeworfen. Und dennoch machen sie globale Herausforderungen - von Pandemien über Klimawandel bis hin zur Sicherheit (immer noch) - so relevant wie nie zuvor. Wie der Generalsekretär Dag Hammarskjöld sagte: 'Die Uno wurde nicht geschaffen, um die Menschheit in den Himmel zu bringen, sondern um sie vor der Hölle zu retten.'“
Ein Dilemma bleibt
Auch die Süddeutsche Zeitung sieht die Bilanz insgesamt positiv:
„Denn die UN mögen nicht der ... effektivste Zusammenschluss von Ländern sein - ideell hingegen sind sie die wichtigste Vereinigung des Erdballs. ... Generalsekretär António Guterres hat recht, wenn er sagt, dass diese ihr Hauptziel erreicht haben: die Verhinderung eines dritten Weltkrieges, insbesondere einer globalen atomaren Auseinandersetzung. Guterres hat auch recht, wenn er sagt, dass die Organisation reformiert und modernisiert werden muss. Das Jubiläum ist dazu ein guter Anlass. Ein grundsätzliches Problem wird sich nicht lösen lassen: die Dualität zwischen den Ansprüchen der Großmächte, besonders von China, Russland und den USA, die als ständige Mitglieder im Sicherheitsrat vertreten sind, und der Idee der Gleichheit aller Länder. Vermutlich wird dieses Problem auch die nächsten 75 Jahre der UN bestimmen.“
Gefährliches Machtvakuum
Die Abwendung der USA von internationalen Organisationen ist Grund zur Sorge, klagt Jan Wouters, Professor für Internationales Recht, in De Standaard:
„China ist eifrig dabei, das Vakuum im Uno-System zu füllen: Das Land wurde kürzlich zum zweitgrößten Finanzier der Uno und der Uno-Friedensoperationen (nach den USA). ... Aber es ist sehr die Frage, ob eine chinesische Dominanz der Uno guttut, vor allem, was Menschenrechte und Demokratie betrifft. ... Idealerweise würde Europa die Führung in der Uno übernehmen. Aber die 27 Mitgliedsstaaten sind gespalten und hängen - unser Land eingeschlossen - an ihrem jeweils eigenen Sitz. Die Uno bleibt vor allem ein Club von und für Nationalstaaten, was eine tragende Rolle für die EU als Bündnis deutlich erschwert.“
Europa will Kräfte bündeln
Die Bereitschaft zu internationaler Zusammenarbeit hat sich verschlechtert, doch es lassen sich auch Hoffnungszeichen ausmachen, beobachtet Le Temps:
„Der Multilateralismus steckt in der Krise. Er wird von einem abstoßenden Populismus, einer beunruhigenden nationalistischen Abschottung und immer unmöglicher einzuhaltender Budgetzwänge sabotiert. Die Rivalität zwischen China und den USA verschlimmert die Lage zusätzlich und könnte zu einer Lähmung der Uno führen. Es ist jedoch ermutigend zu sehen, wie Frankreich und Deutschland und weitere Länder in ihrem Schlepptau ihre Kräfte innerhalb des Bündnisses für den Multilateralismus bündeln und die Notwendigkeit internationaler Kooperation bekräftigen. Indem Europa die Uno unterstützt und sie gleichzeitig zu Reformen drängt, muss es mit seinen eigenen Werten als Brücke zwischen den Mächten USA und China im Dienste der Demokratie wirken.“