Armenien und Aserbaidschan: Wie brenzlig ist es
Es sind die heftigsten Kämpfe seit 2016: Seit Mitte Juli kommt es in der Grenzregion zwischen Armenien und Aserbaidschan zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Mehr als ein Dutzend Menschen starben bereits dabei. Der "eingefrorene" Konflikt um das armenisch besiedelte Bergkarabach innerhalb Aserbaidschans prägt die Region seit 30 Jahren. Die aktuellen Scharmützel geschehen jedoch außerhalb dieses Gebietes.
Über Generationen gepflegter Hass
Nachdem es auch in Moskau zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern gekommen ist, richtet Radio Kommersant FM sein Augenmerk auf die Erziehung in beiden Volksgruppen:
„Der nationale Diskurs in beiden Ländern basiert auf dem Gegensatz zueinander. Schon Kleinkindern zeigt man den bösen Nachbarn und mit diesem Bewusstsein werden sie Eltern, Lehrer oder Politiker. Diese endlose Hasspropaganda führt dazu, dass selbst Machtwechsel es nicht erlauben, einen Ausweg zu finden. Wie man am Beispiel des [armenischen] Premiers Paschinjan sieht, können neue Anführer eine andere Sicht auf Wirtschaft und Sozialpolitik haben, aber in der Hauptfrage sind sich alle einig. Der Versuch, den Konflikt zu lösen, kann ihnen die Karriere oder gar das Leben kosten. Dafür kann Kriegsrhetorik leicht jedes beliebige interne Problem lösen, egal ob Coronavirus oder Ölpreisverfall.“
Konflikte lassen sich nicht einfrieren
Den Karabach-Konflikt als "eingefrorenen Konflikt" ad acta zu legen, ohne an der Statusfrage zu arbeiten, ist keine Lösung, warnt die Korrespondentin Marianna Prysiazhniuk auf RBK-Ukraina:
„Der wichtigste Stolperstein ist, dass die internationale Gemeinschaft den Status von Berg-Karabach nach der Entmilitarisierung in einem Referendum bestimmen will. … Trotz der Versuche der Weltgemeinschaft, vertreten durch die Minsk-Gruppe, lieber auf einen 'schlechten Frieden' als einen 'guten Krieg' zu setzen, wird die Fragilität der Lage durch viele Unwägbarkeiten verstärkt. Karabach ist ein vielsagendes Beispiel dafür, dass ein 'eingefrorener Konflikt' ein Mythos ist. Und wenn die Diplomatie das ausblendet, spricht früher oder später die Artillerie.“
Gut gepflegte Feindschaft ist besser als realer Krieg
Auch Echo Moskwy glaubt nicht, dass der Konflikt eskaliert:
„Baku verdächtigt Jerewan, eine Einmischung der 'Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit' provozieren zu wollen, schließlich ist Armenien Mitglied dieses von Russland geführten Militärbündnisses, und eine Aggression gegen ein Mitglied gilt satzungsgemäß als Angriff auf den ganzen Block. … Die Kriegslust auf beiden Seiten scheint bisher allerdings gedämpft. Niemand will kämpfen. Alle sind Realisten, denn der auf Jahrzehnte eingefrorene Konflikt ist für alle günstig. Man kann auf ewig die Säbel schwingen, sich dabei an die Macht klammern und dem Feind mit Vernichtung drohen. Aber dazu muss man ihn sorgfältig hegen und pflegen.“
Ablenkungsmanöver in der Corona-Krise
Die aktuellen Auseinandersetzungen kommen den Machthabern beider Seiten gelegen, analysiert Ukrajinska Prawda:
„Sowohl Armenien als auch Aserbaidschan leiden unter den Folgen des Coronavirus und brauchen etwas, das die Gesellschaft ablenkt. Die Verschiebung des Aufmerksamkeits-Fokus weg von Wirtschaft und Gesundheit hin zu Sicherheit ist für beide Seiten vorteilhaft. Das wiederum lässt hoffen, dass sich die Eskalation an der Grenze nicht zu einem ausgewachsenen Konflikt entwickelt oder dass das zumindest nicht das ist, was die aserbaidschanischen Machthaber beabsichtigen.“
Armenien muss Bergkarabach aufgeben
Für eine Lösung des Konflikts muss vor allem Armenien Kompromisse eingehen, findet Hürriyet Daily News:
„Es ist womöglich schwer zu akzeptieren, aber wenn kein diplomatischer Ausweg aus der fortdauernden Besatzung des aserbaidschanischen Bergkarabach und der umliegenden Regionen durch Armenien gefunden wird, könnten die beiden Länder früher oder später in einen richtigen Krieg stürzen. Offensichtlich kann von Aserbaidschan nicht erwartet werden, dass es gegenüber der andauernden Besatzung seines Territoriums durch ein vom Westen und von Russland verwöhntes Armenien untätig bleibt. ... Aserbaidschan hat bei mehreren Gelegenheiten in den vergangenen Jahren erklärt, dass es, obwohl es keine territorialen Zugeständnisse in Bergkarabach machen würde, bereit wäre, der Region fortgeschrittene Autonomie zu garantieren.“