Brauchen Schulen einen Dresscode?
In mehreren Ländern Europas wird derzeit über Dresscodes an Schulen debattiert. In Schweden sind den Lehrenden angebliche Gangster-Outfits ein Dorn im Auge. In Frankreich und der Schweiz ist es die ihrer Meinung nach zu freizügige Kleidung der Mädchen. So müssen Lernende an einer Genfer Schule ein übergroßes T-Shirt mit der Aufschrift "Ich bin angemessen gekleidet" anziehen. Kommentatoren diskutieren Sinn und Unsinn solcher Normen.
Falsche Moralvorstellung schadet Mädchen
Für den Tages-Anzeiger sagt das 'T-Shirt der Schande' mehr aus über die, die es verordnen als über die, die es tragen müssen:
„Das T-Shirt ist ein textiler Pranger. Es verhüllt nackte Körperstellen, aber gleichzeitig enthüllt es eine schädliche Moralvorstellung. Noch immer gilt der Frauenkörper offenbar als Gefahr. Man muss die Gefahr bannen, indem die Frau beschämt wird. ... Solche Moralvorstellungen erschweren zu lange schon das Leben vieler Mädchen und Frauen. Ständig geht es um ihr Fleisch. Die Vorstellungen erschweren auch das Leben vieler Knaben und junger Männer: Ihnen wird unterstellt, reflexartig nach einem nackten Knie zu gieren oder in ein Décolleté zu starren. Es gäbe einen simplen Ausgang aus dieser Unfreiheit. Die Klassen könnten mit den Lehrpersonen über solche Fragen diskutieren. Es gibt ja Argumente, warum man sich für die Schule anders kleiden soll.“
Gemeinsame Regeln schaffen Identität
Der neue Dresscode einer Göteborger Grundschule verbietet unter anderem Jogginghosen, weil sie angeblich an den Kleidungsstil krimineller Banden erinnern. Die Kritik, so würden Schüler aus ressourcenschwachen Haushalten zusätzlich benachteiligt, findet Göteborgs-Posten unberechtigt:
„Schulen mit vielen schwachen Schülern und großen Disziplinarproblemen würden von einem Dresscode am meisten profitieren. So kann man den Kampf mit den Banden aufnehmen, die ansonsten als einzige Gemeinschaft, Identität und starke Statussymbole anbieten. ... Das radikale 1968er Erbe hat noch immer einen großen Einfluss auf soziale Fragen in Schweden, auch die Schule. Die Rechte der Schüler sind das Allerwichtigste. ... Aber die Abwesenheit von Pflichten stärkt Menschen nicht. Am wenigsten jene, die sich nicht von einer Mittelschichts-Identität und guten sozioökonomischen Verhältnissen auffangen lassen können.“
"Normale" Kleidung gibt es nicht
Frankreichs Bildungsminister Blanquer ließ zu der Debatte verlauten, man solle sich für die Schule einfach "normal" anziehen. Aber jede Norm ist sozial konstruiert, entgegnet die Soziologin Nadia Vargaftig in Libération:
„Aber ja, klar doch! Seien wir einfach normal, meine Damen! ... Was ist normaler als die Norm? Warum bemühen wir geistes- und sozialwissenschaftlichen Forscher uns überhaupt noch, Normen zu hinterfragen, zu dekonstruieren, zu kontextualisieren und zu konfrontieren? ... Mit ihrer Forderung nach einer Norm, mehr noch, nach Normalität, geben Blanquer und Macron vor, eine Debatte um Normen zu beenden, die wir zweifellos brauchen, um zusammenzuleben, deren Historizität und deren Zweck jedoch nie vergessen oder unterschätzt werden dürfen, am wenigsten der Zweck der Ausübung von Herrschaft.“