Votum für neue Verfassung: Kann Chile schon feiern?
Die Chilenen haben am Wochenende mit klarer Mehrheit für eine Verfassungsreform gestimmt. Die aktuelle Verfassung wurde 1980 ohne Mitwirkung von Volksvertretern vom Pinochet-Militärregime ausgearbeitet. Ihre Abschaffung war eine der Forderungen der sozialen Proteste von 2019. Präsident Sebastián Piñera sprach von einem Sieg für Demokratie und Einigkeit. Beobachter stimmen mehrheitlich zu.
Diktatorisches Erbe wird abgestreift
Die neue Verfassung könnte mehr Chancengleichheit schaffen, hofft Werner Marti, Lateinamerika-Spezialist bei der Neuen Zürcher Zeitung:
„Die drei wichtigsten Bereiche, in denen die Protestbewegungen immer wieder Reformen verlangten, betreffen nämlich alle Chilenen: Bildung, Gesundheit und Renten. ... In der chilenischen Gesellschaft ist das Prinzip der persönlichen Leistung – gerade als Folge des Pinochet-Regimes – tief verankert. Den Chilenen ist seit vielen Jahren eingeschärft worden, dass die persönliche Anstrengung das Ein und Alles ist, um voranzukommen. Wenn die gesellschaftliche Erfahrung diesem Grundsatz widerspricht, weil nicht alle mit gleich langen Spiessen kämpfen und die soziale Absicherung trotz Leistung nicht gewährleistet ist, dann verliert das System an Legitimität.“
Jetzt den Druck aufrechterhalten
Das Referendum ist erst der Anfang, betont die Frankfurter Rundschau:
„Es stellen sich weitere Fragen. Wer darf an der neuen Verfassung mitschreiben? Wie sehr ist die Zivilgesellschaft repräsentiert? Wie sehr die 1,5 Millionen Mapuche-Ureinwohner:innen? Die Chilen:innen werden den Druck aufrechterhalten müssen. Die Volksvertreter:innen sind diskreditiert. Die Rechte, weil sie sich es in dem aus der Gewaltherrschaft geerbten Modell bequem gemacht hat. Und die Linke, weil sie in 30 Jahren Demokratie nicht in der Lage war, es abzuschaffen. Das hat die Bevölkerung übernommen.“
Riskantes Experiment
So begrüßenswert eine neue Verfassung ist, birgt der eingeschlagene Weg dorthin große Gefahren, warnt El Mundo:
„Das Prozedere, für das sich die Chilenen beim Erneuern der Verfassung entschieden haben, ist sehr fragwürdig. Fast acht von zehn Wählern stimmten für eine verfassungsgebende Versammlung, die allein aus zu diesem Zweck gewählten Bürgern besteht. In einer derart komplizierten Lage - mit der Pandemie, einer schweren Wirtschaftskrise und Gewaltexzessen der Linksextremen - ist es höchst riskant, den Pfad der parlamentarischen Demokratie zu verlassen, um den komplexen Weg der Versammlung der Zivilgesellschaft - mit übermäßigem Einfluss der Lobbys - einzuschlagen. Dass die Linke Anstalten macht, diesen Prozess für sich zu vereinnahmen, lässt eine traumatische Spaltung erahnen.“