Wie sieht die Post-Brexit-Ära aus?
Großbritannien und die EU wollen offenbar bis zur letzten Minute über einen Handelsvertrag verhandeln. Für Europas Presse ist der Ausgang der Gespräche jedoch kaum noch entscheidend. Sie spekuliert längst über die Zeit nach dem Brexit.
Neue Ordnung nach dem Chaos
Die Folgen des Brexit sind sehr viel weitreichender als lange Lkw-Schlangen an der Grenze, betont Helsingin Sanomat:
„Auf das Chaos wird eine neue Ordnung folgen, denn Großbritannien löst sich nicht ohne Grund von der EU. Die britische Regierung will Änderungen umsetzen, die innerhalb der EU nicht möglich gewesen wären. Deshalb sind die wirklichen Folgen des Brexit nicht die Lkw-Schlangen, sondern die von der Regierung angestrebten Änderungen der Industriepolitik, der Besteuerung und der Regulierung von Banken und der Finanzbranche. Auf diese Weise will Großbritannien seine Stellung im globalen Wettbewerb verbessern.“
Freihandelsabkommen statt Erpressung
Eine Freihandelsvereinbarung ähnlich dem Ceta-Abkommen zwischen der EU und Kanada könnte nach Ansicht von Svenska Dagbladet eine gute Lösung sein:
„Ceta ist zwar kein vollständiges Freihandelsabkommen - Grenzkontrollen zum Beispiel bleiben bestehen. Ein Abkommen nach kanadischem Modell ist aber besser als gar keins. … Es ist schwer zu begreifen, dass Großbritannien für den Zutritt zum EU-Binnenmarkt bezahlen soll, indem es auf Fischereigewässer verzichtet oder Brüssel den britischen Arbeitsmarkt regeln lässt. Trotzdem halten die EU-Unterhändler an der Forderung nach 'gleichen Spielregeln' fest. Gleiche Spielregeln bedeuten in diesem Fall: Man gestattet Großbritannien nicht, seine Wettbewerbsfähigkeit mit einem liberalisierten Regelwerk zu stärken.“
Ein zu hoher Preis
Nach mehr als vier Jahren Brexit zieht Új Szó folgende Bilanz:
„Neben der nostalgischen Sehnsucht nach einer glorreichen Vergangenheit gewinnen die Briten außerdem: eine langsam nationalistischer werdende konservative Regierungspartei, die vom politischen Wendehals Boris Johnson geleitet wird; eine Handelsbarriere zwischen Nordirland und Großbritannien, die beide der britischen Krone unterstehen; und als Bonus eine eventuelle Volksabstimmung im nächsten Jahr über die Ablösung Schottlands. War es das wert?“
Stelldichein der Scheichs und Oligarchen
Der Druck, unter dem die britische Politik jetzt steht, ist vermutlich kontraproduktiv, erklärt Krytyka Polityczna:
„Nicht die Ausländer, die zur Arbeit kamen, haben den britischen Staat verdorben, sondern die, die auf der Straße nur selten zu sehen sind: Scheichs, Oligarchen und sogenannte Finanzhaie. Wenn der Brexit eine Chance bietet, diese stärker zu kontrollieren, würde er zumindest einige positive Konsequenzen haben. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die britischen Regierenden jetzt noch stärker daran interessiert sein werden, ausländisches Kapital auf die Insel zu locken, um die wirtschaftlichen Verluste auszugleichen, die sich aus der Scheidung von der EU ergeben.“
Da geht vermutlich nichts mehr
The Daily Telegraph zeigt sich wenige Tage vor Ablauf der Verhandlungsfrist resigniert:
„Es heißt, dass signifikante Zugeständnisse von EU-Seite nötig wären, damit Großbritanniens Handel ab nächster Woche nicht zu WTO-Bedingungen laufen muss. Es ist keineswegs sicher, dass britische Unternehmen darauf vorbereitet sind. Ihnen wurde weisgemacht, dass die derzeitige Pattsituation typisch ist für Verhandlungen, bevor man sich dann doch einigt. Jetzt aber ist es möglich, dass sich das Land in zehn Tagen an eine völlig neue Art des Handels mit seinen engsten Partnern gewöhnen muss. Die Regierung besteht darauf, dass für diesen Fall ausreichend Vorbereitungen getroffen wurden. Ob das stimmt, werden wir möglicherweise bald herausfinden.“
Städte und Regionen, vereinigt Euch
Um den Brexit weniger drastisch ausfallen zu lassen sind nun die Regionen gefragt, appelliert Londons Bürgermeister Sadiq Khan in Le Soir:
„Der Brexit wurde immer als ein Prozess gesehen, nicht als eine sofortige Veränderung. Selbst wenn er in der jetzigen Phase beendet ist, werden wir noch viele Jahre brauchen, um neue Grenzen zu ziehen, und die Auswirkungen dieser Trennung und ihre Folgen für uns und unsere Gemeinschaft zu verstehen. Städte und Regionen in Großbritannien und der Europäischen Union werden zusammenarbeiten müssen, um Wege zu finden, den Prozess zu erleichtern und die Auswirkungen auf unsere jeweiligen Gemeinden abzumildern. Der Brexit darf unsere Bemühungen zur Zusammenarbeit in Fragen, die für beide Seiten von Bedeutung sind, nicht behindern.“
London garantiert Europas Sicherheit
Die EU braucht Großbritannien nicht zuletzt aus Sicherheitsgründen, erklärt Helsingin Sanomat:
„Großbritannien ist eine Atommacht mit einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, einer beeindruckenden Geheimdienstmaschinerie und einem weltweiten Netz an militärischen Stützpunkten. … Großbritannien hat die Verteidigungszusammenarbeit und Sicherheitspolitik aus den Brexit-Verhandlungen raushalten wollen. Auch die Europäische Union hofft, dass der Streit über die Handelspolitik nicht die Sicherheitspolitik, die Verteidigungszusammenarbeit und den Austausch nachrichtendienstlicher Informationen beeinträchtigt.“
Unabhängigkeit ist ein Hirngespinst
Das große Ziel der Brexit-Verfechter, Großbritannien seine Unabhängigkeit zurückzugeben, ist ein Wunschtraum, verdeutlicht Financial Times:
„Boris Johnsons Beharren darauf, dass Großbritannien in Bereichen wie Umwelt, Sicherheit und Beschäftigung von EU-Normen abweichen darf, ist in der Praxis ziemlich bedeutungslos. Unternehmen, die handeln wollen, werden sich weiter an die in Brüssel gemachten Regeln halten. Britische Boote werden möglicherweise mehr Fische in 'souveränen' britischen Gewässern fangen. Doch sie werden willige Käufer auf der anderen Seite des Ärmelkanals finden müssen. Und genau das ist der Punkt: Der Brexit ist eine nationale Tragödie, die auf einem Hirngespinst beruht. Großbritannien wird erkennen müssen, dass es echte Einflussmöglichkeiten aufgegeben hat, um sein Schicksal basierend auf einer von Nostalgie durchtränkten Illusion neu zu gestalten.“