Kaja Kallas in Estland: Regiert sie am Ende doch?
Der estnische Premier Jüri Ratas (Zentrumspartei) hat wegen Korruptionsermittlungen rund um die Vergabe eines staatlichen Darlehens für ein Immobilienprojekt seinen Rücktritt eingereicht. Mit der Bildung einer neuen Regierung ist nun Kaja Kallas beauftragt - Vorsitzende der liberalen Reformpartei, Oppositionsführerin und eigentliche Gewinnerin der Wahl vor zwei Jahren.
Premier hat falsch gepokert
Soziologe Juhan Kivirähk erklärt in ERR Online, wie die Kalkulation von Jüri Ratas von vor zwei Jahren nicht aufgegangen ist:
„Die Hoffnung war damals, dass die Reformpartei in der Opposition schwächer wird. Diese hat sich nicht erfüllt - die Reformpartei verzeichnet weiterhin die größte Zustimmung der Wähler. Die Skandale, die Ratas' Regierung begleitet haben, haben den Kampfgeist der Reformpartei eher gestärkt, sie motiviert, erneut an die Macht zu kommen und den Staat wieder in die richtigen Bahnen zu leiten. Ratas musste sich ständig für Aussagen der Ekre-Führer entschuldigen und somit auch Werte und Ansichten verteidigen, die der Zentrumspartei nicht wirklich entsprechen. Der schlaue Plan von Ratas hat sich gegen ihn gewendet und die Regierungskoalition wurde der Zentrumspartei selbst zum Verhängnis.“
Wenn es hart auf hart kommt, kämpfen die Frauen
Eine weitere Frau als Regierungschefin ist ein gutes Zeichen, findet La Stampa:
„Norwegen, Litauen, Dänemark, Estland, Island und Finnland werden [in der nächsten Zeit] von Frauen geführt werden. Sechs weibliche Premierministerinnen in Europa. Das gab es noch nie. Offensichtlich bekommen sie die Führungsrolle wegen ihrer Fähigkeiten und ihres Fachwissens anvertraut. Dabei ist es kein Zufall, dass sie ihre Länder in einer Zeit der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Krise regieren werden. Wie so oft sind es, nicht nur in der Politik, die Frauen, die das Feld betreten, wenn es hart auf hart kommt. … Sie kämpfen mit einer größeren Energie, weil sie die Hindernisse einer patriarchalisch geprägten Welt überwinden müssen, und oft über mehr Mut und Tapferkeit verfügen.“
Korruptes Zentrum stört offenbar niemanden
Postimees wundert sich, dass die Reformpartei nun ausgerechnet die Zentrumspartei als wahrscheinlichsten Koalitionspartner im Auge hat:
„Wir leben in einer eigenartigen Welt. Einige Stunden nachdem die Staatsanwaltschaft der Zentrumspartei den Korruptionsverdacht serviert hat, ist die Regierung von Jüri Ratas zurückgetreten. Am nächsten Mittag steigt die Partei wie Phoenix aus der Asche zurück ins politische Spiel. Seltsam, dass sowohl andere Parteien als auch Politkommentatoren die Einbeziehung der Zentrumspartei in die neue Koalition als eine realistische Möglichkeit erwägen, obwohl die Partei neben dem neuen Verdacht auch schon eine rechtskräftige Verurteilung hinter sich hat. Mit der Einstellung der Gesellschaft zu Korruption stimmt etwas nicht.“
Schwierige Prüfung für Kallas
Eesti Päevaleht fragt sich, ob Kaja Kallas, die Oppositionsführerin und eigentliche Wahlsiegerin von 2019, diesmal eine Regierung zustande bringt:
„Wenn sie es auch jetzt nicht schafft, eine neue Regierung zu bilden, ist ihre Karriere als Führerin der Reformpartei zu Ende. Hoffnung auf ein erfolgreiches Bestehen der Prüfung kommt von der Verhandlerin der Zentrumspartei, Mailis Reps, die eine neue Koalition mit EKRE ausgeschlossen hat. Mit Reps zu verhandeln fällt Kallas leichter als mit Ratas, denn zwischen letzteren beiden ist zu viel zu Bruch gegangen. Fraglich ist allerdings, ob Reps, die erst vor zwei Monaten wegen 'Fehlnutzung' staatlicher Mittel zurücktreten musste, schon 'geläutert' genug ist, um in die Regierungspolitik zurückzukehren. Nein, ihr moralischer Boden ist immer noch wackelig.“