Gamestop-Krimi: Siegt am Ende David gegen Goliath?
Kleinanleger haben dem Hedgefonds Melvin Capital einen Milliardenverlust beschert. Dieser hatte auf Leerverkäufe von Aktien des Computerspiel-Händlers Gamestop gesetzt, weil dessen Kurse in den vergangenen Monaten gefallen waren. Durch einen konzertierten Kaufansturm der Kleinanleger stieg der Kurs dann aber rasant. Kommentatoren hoffen, dass dieser Triumph die Finanzwelt nachhaltig verändert.
Die Rebellen haben das Unmögliche vollbracht
Kolumnist Hakkı Öcal schwärmt in Daily Sabah von einer revolutionären Heldentat:
„Ich kann die Begeisterung nicht in Worte fassen, die ich empfunden habe, als ich hörte, dass die 'Cancel Bewegung' endlich die Wall Street erreicht und eine Gruppe Redditoren den Hedgefonds im Gamestop-Fiasko einen übergezogen hatte. In der vergangenen Woche kamen Kleininvestoren zusammen, um die Märkte zu erschüttern wie nie zuvor. Die Internet-Revolutionäre, die eigentlich nur arabische Diktatoren aus der Fassung bringen können, griffen diesmal mit solcher Wucht die Börse an, dass diese irrational wurde - ein Kunststück, das mit der Abkühlung der Hölle verglichen werden kann.“
Die Macht der Kamikaze-Anleger
Sega analysiert die Geschehnisse wie folgt:
„Die ganze Gamestop-Affäre ist höchst illustrativ. … Die wichtigste Schlussfolgerung lässt sich mit den Worten Abraham Lincolns ziehen: 'Man kann einen Teil des Volkes die ganze Zeit anlügen und das gesamte Volk einen Teil der Zeit. Aber man kann nicht das gesamte Volk die ganze Zeit anlügen.' Es kommt ein Zeitpunkt, an dem die Taktik, die Menschen irrezuführen, nicht mehr funktioniert. Egal, wie viel Geld Big Finance kontrolliert, die kleinen Anleger gewinnen immer mehr Potenzial - vor allem deshalb, weil sie es sich leisten können, alles zu verlieren oder - nach Marx - weil sie nichts mehr zu verlieren haben.“
So schön wie beängstigend
Kolumnist Kostas Giannakidis schreibt in Protagon:
„Wahrscheinlich ist, dass sich an der Funktionsweise der Märkte absolut nichts verändern wird. Das System könnte Sperren erstellen, die Spiele verhindern oder, noch effektiver, organisierte Menschenmengen davon fernhalten. Doch was mit Gamestop passiert ist, ist wunderschön und zugleich beängstigend. Was würde mit den Märkten passieren, wenn die Menge der Fischchen noch größer würde? Die Situation erinnert an das, was mit den traditionellen Medien passiert ist, als die sozialen Medien aufgetaucht sind: … Menschen haben ihre eigenen Informations- und Kommunikationskanäle eingerichtet. … Es ist davon auszugehen, dass wir ähnliche Entwicklungen auch im Wirtschaftsbereich sehen könnten.“
Ein Hoffnungsschimmer
Für Visão stellt die Geschichte positive Veränderungen in Aussicht:
„In einer von Armut und Ungleichheit heimgesuchten Welt, in der eine Wirtschaftskrise und neue politische Winde bevorstehen, ist es zunehmend absurd, ein zutiefst unlogisches, ineffektives und unfaires globales Finanzsystem aufrechtzuerhalten. ... Die finanziellen Hirngespinste in den oberen Sphären werden jetzt zunehmend hinterfragt und geprüft. Manche glauben, dass die Neukonfiguration der Regeln des kapitalistischen Spiels unvermeidlich ist. Vielleicht. Auf jeden Fall ist es anregend, Versuche zu sehen, neue Gleichgewichte zu schaffen.“
Streber sorgen für Chaos
Das ist die Rache der Nerds, schreibt Jutarnji list:
„Was passiert, wenn eine Gruppe von Strebern - genervt von der Ungerechtigkeit des Finanzmarktes, der ihnen gleichzeitig als sexy Spielzeug derer scheint, die einige unüberwindbare Klassenstufen über ihnen stehen - entscheidet, die Gerechtigkeit in die eigenen Hände zu nehmen? Sie tun es und sorgen wie erwartet für totales Chaos in einem Mechanismus, der noch seit der großen Krise von 2007 überzeugt ist, dass ihm nichts Schlechtes widerfahren kann. ... Was niemand erwartete, war die massenhafte Beteiligung der Amateur-Investoren, die das Spiel gegen die Wall Street amüsierte, aber auch anzog, weil sie im Falle des Erfolges den verhassten Hedgefonds eine Lektion erteilen könnten.“
Am meisten profitieren die Großen
Das Geschäftsmodell von Gamestop hat keine Zukunft, schreibt die Aargauer Zeitung:
„Wenn also die Rebellen auf Wallstreetbets diese Aktie in absurde Höhen treiben, dann hat dies nichts mit Vernunft zu tun. ... Die Wallstreetbets-Rebellen haben eine grosse Ähnlichkeit mit den Impfgegnern. Sie misstrauen den Eliten zutiefst und fühlen sich dank Internet und Apps in der Lage, ihr Finanzschicksal in die eigenen Hände zu nehmen. ... Hedge-Fund-Manager sind Einzelkämpfer, keine Herdentiere. ... Deshalb kämpfen sie nicht geschlossen gegen die Rebellen, sie spannen sie für die eigenen Zwecke ein. Wisst ihr, wer am meisten vom Höhenflug der Gamestop-Aktien profitiert hat? BlackRock. Larry Fink & Co. sind dank den Rebellen über mehr als zwei Milliarden Dollar reicher geworden.“
Achtung Blase!
Vor den Gefahren der Spekulation durch die Kleinanleger warnt auch De Standaard:
„Generation Z, hart von Corona getroffen, crasht die Party auf dem Börsenfest. Das ist Occupy Wall Street, aber digital. Die jüngste Vergangenheit hat aber gezeigt, dass auch eine unberechenbare, zerstörerische Kraft losbricht, wenn die Masse durch die Dynamik der sozialen Medien mobilisiert wird. Genau wie viele professionelle Spekulanten schaffen auch die Reddit-Anleger eine Seifenblase, einen falschen Wert, der nichts mit dem realen Wert von Gamestop zu tun hat. … Die Wall Street kann solche Störungen gut gebrauchen, aber es wird spannend, ob dieser Aufstand sich zum Guten oder zum Schlechten wendet.“
Der Fehler liegt im System
Es ist falsch, die Kleinanleger für die hohen Kursschwankungen verantworlich zu machen, betont Aamulehti:
„Viele sind der Meinung, dass sich die großen Hedgefonds beim Eingehen der Risiken verkalkuliert haben und nun werden diese Risiken ausgeglichen, indem der Handel der Kleinanleger beschränkt wird. Hinter dem Phänomen gibt es aber ein größeres Problem des Systems. Die Zentralbanken haben mit ihrer außergewöhnlich lockeren Geldpolitik dazu beigetragen, dass auf allen Wegen versucht wird, Gewinne zu erzielen. Es ist falsch, in diesem Spiel die Kleinanleger als Schuldige auszumachen. Die Schuld liegt im System, dessen lose Fundamente durch solche Phänomene getestet werden.“
Börse darf nicht zum Casino werden
Langfristig könnte sich die Geschichte nicht nur für die Kleinanleger rächen, warnt Financial Times:
„Die Realität ist, dass die Aktien von Gamestop und anderen Unternehmen fallen werden. Die Aufregung wird enden und sollte langfristige Anleger nicht abschrecken. Es gibt jedoch weitreichendere Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit der Märkte. Es ist wichtig, dass Investieren für eine ganze Generation neuer Investoren nicht zum Synonym für Glücksspiel wird. Dies wäre nicht nur schlecht für den Markt, sondern auch schlecht für die Anleger selbst, wenn sie verlieren - und es würde ihre negative Einstellung gegenüber der Wall Street weiter verstärken.“