Gorman-Übersetzung: Wird Identität zur Kompetenz?
Die Diskussion darüber, wer Amanda Gorman übersetzen sollte und wer nicht, treibt viele Kommentatoren weiterhin um. Nach heftiger Kritik hatte die Schriftstellerin Marieke Lucas Rijneveld den Auftrag zurückgegeben, den Gedichtband der jungen Schwarzen Autorin ins Niederländische zu übertagen. Beobachter hinterfragen die Argumentation, dass eine Weiße nicht die Richtige für die Übersetzung sei.
Diskriminierungserfahrung ist keine Qualifikation
Um Kompetenz scheint es in der Gorman-Rijneveld-Debatte nicht mehr zu gehen, bedauert Die Presse:
„Man könnte einwenden, dass die 29-jährige Rijneveld als Transgender-Autorin das Gefühl von Außenseitertum gut kennt ... . Doch das würde erneut die absurde Prämisse bestätigen: dass nur die Zugehörigkeit zu bestimmten, mit Diskriminierungslabel ausgestatteten Gruppen einen berechtigt und befähigt, in Worte gegossene menschliche Gefühle und Erfahrungen nachzuempfinden und in einer anderen Sprache zu vermitteln. ... Gerecht wird einem Text, wer ihn gut übersetzt.“
Auch Gegenkultur ist vor Rassismus nicht gefeit
Auch der Tages-Anzeiger bemängelt eine fehlgeleitete Identitätspolitik:
„Allein geteilte (natürlich leidvolle) Erfahrungen begründen Kompetenz: So das Mantra mächtiger Pressure Groups, dessen Absurdität leicht zu demonstrieren ist. Nach diesen Kriterien müsste die ideale Übersetzerin Amanda Gormans nämlich auch dünn ('skinny black girl'), Nachfahrin von Sklaven und Tochter einer alleinerziehenden Mutter sein. Grundsätzlich dürfte keine 'person of colour' einen weissen Autor übersetzen, keine Frau einen Mann, kein Alter eine Junge, kein Lebender einen Shakespeare. Dieses Denken reduziert Menschen auf ihre Zugehörigkeit zu Gruppen. Es macht ihre Hautfarbe zum entscheidenden Merkmal für das, was sie können und dürfen. Solche Ansichten sind selbst nicht frei von rassistischen Zügen. Und vollkommen literaturfremd.“
Niemals identisch mit dem Original
Übersetzungen sind immer nur eine Annäherung, gibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung zu bedenken:
„Das Original ist das eine, das andere die Übertragung in eine andere Sprache, die automatisch immer etwas anderes ist als das Original, die vermitteln, Zusammenhänge herstellen, imitieren muss. ... Wenn der Vorgang um Gorman etwas für sich hat, dann ein Licht zu werfen auf die schwierige Rolle der Übersetzerinnen und Übersetzer. Die unter enormem Zeit- und Kostendruck arbeiten und wissen, dass sie bei allem Einsatz immer nur Annäherungswerte abliefern können. Nichts, was mit dem Original identisch wäre.“
Alle müssen über alles schreiben dürfen
Gerade, wenn man Diskriminierung bekämpfen will, darf Identität keine Rolle spielen, argumentiert De Volkskrant:
„Farbe, Geschlecht und sexuelle Orientierung machen einen Teil der menschlichen Identität aus, aber sie bestimmen sie nicht. Jahrhundertelang hielt man sie jedoch für bestimmend, mit schrecklichen Folgen wie Sklaverei, Misshandlung von Frauen, Unterdrückung von Homosexuellen. ... Dass darüber heiß debattiert wird, ist absolut gerechtfertigt. Aber das Ziel dieser Debatte muss sein, äußerliche Unterschiede von Menschen zu überbrücken, nicht, sie zu betonen. ... Bei Literatur geht es immer um das Sich-Hineinversetzen in einen Anderen. ... Alle Schriftsteller dürfen über alles schreiben. Und die Produkte ihrer Phantasie dürfen von allen Übersetzern in eine andere Sprache übersetzt werden. Daran zu rütteln, ist gefährlich.“
Literaturwelt zu weiß
Die Hautfarbe von Autorinnen und Autoren nicht zu thematisieren, führt zu Ausgrenzung, entgegnet der Autor und Kolumnist Mohamed Ouaamari in De Morgen:
„Die Qualität der Feder entscheidet, was gute Literatur ist und nicht die Hautfarbe. Das Problem ist aber, dass es heute kaum Raum gibt für die Federn von Minderheiten, und dass der Literatursektor noch immer genauso weiß ist, wie das Kokain, das im Hafen von Antwerpen an Land kommt. ... 'Hört uns, gebt uns einen vollwertigen Platz in der Gesellschaft', hieß es 2020 bei den Black-Lives-Matter-Protesten. Das Team Biden/Harris hat hingehört und gab der unbekannten und jungen Dichterin Gorman eine Plattform. ... Amanda Gorman wäre jedoch nie verlegt worden, wenn sie in Belgien oder den Niederlanden leben würde.“