EM: Bahn frei fürs Fest der Völkerverständigung?
Mit dem Spiel Italiens gegen die Türkei beginnt am heutigen Freitag in Rom die ursprünglich 2020 angesetzte Fußball-Europameisterschaft. Die diesjährige Ausgabe ist mit elf Austragungsländern besonders paneuropäisch. Besonders ist sie aber auch, weil zumindest in beschränkter Zahl wieder Zuschauer in den Stadien dabei sein werden. Europas Presse schwankt zwischen Vorfreude und Skepsis.
Endlich wieder gemeinsam buhen und jubeln
Fußball vereint, freut sich La Repubblica:
„Heute geht es los, mit Publikum, in Budapest sogar ohne Beschränkungen im Stadion. Es ist eine Quasi-Rückkehr zur Normalität für ein Europa mit weiten Grenzen, vereint und zerstritten, eines, wo das England des Brexit [politisch] nicht mehr dabei ist, aber wo das Euro-Finale in Wembley stattfindet, in London. Die Stadien werden wieder eine eigene Stimme haben, einen kollektiven Soundtrack. Die Fans sind wieder da, für viele der zwölfte Mann, derjenige, der anfeuert, wenn die Kräfte schwinden, derjenige, der pfeift und buht, wenn er sich betrogen fühlt. ... Es gibt diejenigen, die sich mit dem alten Publikum zufrieden geben, und diejenigen, die sich eine neue Art von Fan wünschen. ... Mit der Hoffnung, dass der Sport nicht eine Schaluppe, sondern eine Arche Noah sein kann, auf der wir unsere Vielfalt teilen.“
Rasen wird zum politischen Minenfeld
Dass die Fußball-EM zur Völkerverständigung beiträgt, stellt die Aargauer Zeitung in Frage:
„Werden die Türken bei dem Auftaktspiel gegen die Italiener wieder mit der Hand an der Schläfe Erdoğan grüssen? Wird es bei England-Schottland ohne Brexit-Pöbeleien abgehen? Und was wird Putin tun, wenn die Russen gegen die Ukrainer antreten müssen – und verlieren? Die Uefa hatte schon bei den Qualifikationsspielen Duelle untersagt: Kosovo durfte nicht gegen Bosnien oder Serbien antreten, Spanien nicht gegen Gibraltar. Die Uefa nennt das 'prohibited clashes', verbotene Zusammenstösse. Zum Glück für den Frieden in Europa haben sich die meisten dieser Nationalteams nicht für die EM-Schlussrunde qualifiziert.“
Wettbewerb der Ungewissheiten
Die über den Kontinent verteilte Austragung sollte ein Symbol werden, die Pandemie hat sie aber zu einer immensen Herausforderung und Gefahr gemacht, bemerkt Le Soir:
„Strenge Infektionsschutzmaßnahmen, je nach Land unterschiedlich hohe Zuschauerhöchstgrenzen, Infektionsherde in einigen Teams, Reiseschwierigkeiten für die kühnen Fans: Die EM hängt am seidenen Faden, so viel ist klar. ... 24 teilnehmende Mannschaften in 11 verschiedenen Ländern, das ist im Grunde ein Bumerang ins Gesicht der Organisatoren, die von strategischen und finanziellen Überlegungen geleitet wurden (so viele Austragungsorte wie qualifizierte Mannschaften, um mehr Geld einzunehmen oder mehr Länder in der Hand zu haben) und nun mit einer Logistik konfrontiert sind, die die Europameisterschaft gefährden kann.“
Uefa gewinnt, Menschenrechte verlieren
Der Kurier kritisiert die Vergabepraxis der Austragungsorte:
„Charmant vielleicht bei erster Betrachtung, doch in Wahrheit hat sich einer der größten Sportverbände im scheinheiligen Anliegen der Völkerverbindung wiederholt aus der Pflicht geschlichen, politische Verantwortung zu übernehmen. Putins Russland (St. Petersburg) bekam eine Bühne für eine freundliche Außendarstellung, Orbáns Ungarn (Budapest) ebenso. Von den ins Abseits gekickten Menschenrechten in Aserbaidschan (Baku) ganz zu schweigen. Egal, gewinnbringend ist diese Euro für die Uefa allemal.“