Wozu hat Putin das partielle Kriegsrecht verhängt?
Zwar heißt der russische Krieg gegen die Ukraine in Moskau weiterhin offiziell "Spezialoperation". Aber in den vier illegal annektierten ukrainischen Regionen verhängte Putin nun das Kriegsrecht. Dies ermächtigt Befehlshaber, persönliche Freiheiten massiv einzuschränken. Gleichzeitig ruft das russische Militär die Zivilbevölkerung in der Stadt Cherson zur Flucht auf. Kommentatoren beleuchten die Zusammenhänge.
Zukunft des Krieges entscheidet sich in Cherson
Russland befindet sich militärisch in einer Sackgasse, glaubt Visão:
„Die finale Schlacht bei Cherson wird stattfinden, ohne dass wir eine genaue Vorstellung vom Ausmaß der russischen Niederlage haben, aber Putins Dekret zur Verhängung des Kriegsrechts in der Region und in den anderen besetzten Gebieten sowie die Zwangsevakuierung ihrer Bürger sind ein untrügliches Zeichen dafür, dass der ukrainische Vormarsch Panik und die beschleunigte Flucht der russischen Truppen auslösen wird. ... Putin befindet sich in einer Sackgasse: Entweder er zieht alle seine Kräfte aus den vier von ihm besetzten Regionen zurück und konzentriert alles auf die Krim, oder er muss eine schwere militärische Niederlage hinnehmen.“
Den Besatzern ausgeliefert
Die Russland-Korrespondentin des SRF, Luzia Tschirky, wertet den Schritt als Vorbereitung für Zwangsevakuierungen:
„Unmittelbar für den weiteren Kriegsverlauf dürfte die ... Erklärung keine Auswirkungen haben, doch die Menschen in den von Russland besetzten Gebieten sind ... der Besatzungsmacht noch stärker ausgeliefert als zuvor. ... Mit dem verkündeten Kriegszustand für vier von Russland besetzte Gebiete der Ukraine haben die russischen Besatzer ein weiteres Mittel in der Hand, um die Lokalbevölkerung auch gegen ihren Willen zu evakuieren. Für Wladimir Putin scheint die Ankündigung vor allem dem Zweck zu dienen, den Druck auf die Lokalbevölkerung zu erhöhen und sich einem Publikum in Russland als entschlossener Präsident zu zeigen.“
Menschliche Schutzschilde
Unter dem Deckmantel der Evakuierung der Zivilbevölkerung will Russland seine Soldaten in Sicherheit bringen, schreibt NV:
„Wissen Sie, wenn man von den Satelliten aus sieht, wie eine ganze Kolonne von Soldaten mit Schiffen und Fähren vom rechten auf das linke Ufer evakuiert wird, wird man natürlich mit Himars-Raketen zuschlagen. Wenn man aber über Satellit sieht, dass die Kolonne zur Hälfte aus Soldaten und zur anderen Hälfte aus Zivilisten besteht, wird man nicht auf eine solche Fähre schießen. Kurz gesagt, die Russen wollen aus den Evakuierten von Cherson ein menschliches Schutzschild machen.“
Präsident erfüllt sich einen alten Traum
Es geht dem Kreml-Chef darum, sich nicht mehr um Bürgerrechte scheren zu müssen, glaubt der Oppositionspolitiker Leonid Gosman auf Facebook:
„Er unterzeichnete ein Dekret über die landesweite Einführung der unmittelbaren Diktatur, die Abschaffung der Verfassung sowie sämtlicher Bürgerrechte. Das ergibt sich aus der Formulierung, dass alle Behörden, Organisationen und Bürger den Anordnungen sogenannter Koordinierungsräte Folge zu leisten haben. Ihre Meinung dazu, Ihre Rechte - sofern Sie selbige nicht bereits vergessen haben - und jedwede bisher geltenden Gesetze sind belanglos. Er hat dies nicht nur wegen des Krieges getan - er hat es schon lange satt, so zu tun, als gälten im Land angeblich Gesetze.“
Auch lokale Gegenspieler werden gestärkt
Dass Putin in weiteren Verordnungen zusätzliche Landesteile in einen noch nicht näher definierten Alarmzustand versetzt hat, gibt lokalen Machthabern Interpretationsspielraum, meint The Spectator:
„Man darf gespannt sein, wer [die neuen Befugnisse] im Sinne Moskaus einsetzt, wer im Grunde versucht, sie zu ignorieren, und wer noch mehr als bisher versucht, sich mit Veruntreuung und Unterschlagung zu bereichern. Denn Putin hat möglicherweise die Folgen einer weiteren Stärkung lokaler Machtakteure nicht bedacht. Moskaus Bürgermeister Sergei Sobjanin beispielsweise ist eindeutig kein Fan des Krieges. Seine Ankündigung am Montag, dass die Mobilisierung in der Stadt beendet sei, wurde weithin als Brüskierung des Kreml angesehen. Und Sobjanin hat bereits angekündigt, dass er derzeit nicht beabsichtige, sich auf Bestimmungen des Dekrets zu berufen.“