Wogegen richten sich die Proteste in China?
Ein massives Polizeiaufgebot hat am Montag verhindert, dass die Proteste in China gegen die Null-Covid-Politik andauerten. Ein Sprecher des Außenministeriums verkündete, man werde an der Politik festhalten, gleichzeitig gab es kleinere Zugeständnisse: In Peking beispielsweise dürfen Studierende mancher Unis den Campus wieder verlassen. Die Proteste vom Wochenende beschäftigen Europas Presse aber weiterhin.
Kein Ausweg aus dem Lockdown
Chinas Covid-Strategie ist gescheitert, meint Corriere della Sera:
„Peking hat zu viel Zeit und Ressourcen verschwendet, ohne eine Ausstiegsstrategie aus den Gesundheitsbeschränkungen zu entwickeln. Derzeit sind die Infektionen auf etwa 40.000 pro Tag begrenzt. Aber wenn China jetzt wieder öffnet, mit seinen weniger wirksamen und weniger verbreiteten Impfstoffen als im Westen, mit seinen weniger gut vorbereiteten Krankenhäusern, würde es in den nächsten sechs Monaten 363 Millionen Infektionen und 620.000 Todesfälle geben. Nach drei Jahren des Lockdowns könnte selbst Xi den Chinesen das Ausmaß des Versagens nicht erklären und müsste zugeben, dass das Einparteiensystem schlechter funktioniert als die westlichen Demokratien.“
Erschöpfte Chinesen, brachliegende Wirtschaft
El Mundo fühlt sich an 1989 erinnert:
„Obwohl die Bewegung noch keine Revolution ist, erinnert sie an die Studentenrevolte, die 1989 mit einem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens endete. Zum ersten Mal sind wieder Rufe nach Freiheit und Demokratie zu hören, und zwar von vielen jungen Menschen. ... Die Proteste spiegeln auch wider, wie sehr die Gesundheitspolitik die Chinesen erschöpft hat, eine Gesundheitpolitik, mit der die kommunistische Regierung ihre soziale Kontrolle verstärken konnte, in der sie aber jetzt festsitzt. Die Chinesen müssen nicht nur mangelnde Mobilität ertragen, sondern auch einen wirtschaftlichen Niedergang, der schon jetzt die Familien betrifft: Die Jugendarbeitslosigkeit ist auf Rekordniveau und der Immobilienmarkt stürzt gerade ein.“
Der Vogel will nicht zurück in den Käfig
China braucht jetzt echte demokratische Reformen, glaubt Kolumnist Pierre Haski in France Inter:
„Die von der KP präsentierte harmonische Fassade ist an der Null-Covid-Politik zerbrochen und sie muss einen neuen Gesellschaftsvertrag ausarbeiten, der über leere Slogans wie 'chinesischer Traum' oder 'gemeinsamer Wohlstand' hinausgeht. Mit seiner oft wiederholten Aussage vom niedergehenden Westen und dem aufsteigenden China glaubte Xi, die demokratische Versuchung gebannt zu haben, die China seit über einem Jahrhundert beunruhigt. Doch er hat nicht das getötet, was Nathan Law, der verbannte Anführer der Revolte in Hongkong, in schönen Worten zusammengefasst hat: 'den Wunsch, den Käfig zu verlassen und zu fliegen'. Heute ist es schwierig, den Vogel wieder in seinen Käfig zu stecken.“
Es geht nicht gegen die Zentralregierung
Die Macht von Präsident Xi ist nicht gefährdet, meint der China-Korrespondent Fabian Kretschmer in der taz:
„Wer etwas anderes behauptet, unterschätzt die perfide Effizienz der chinesischen Zensur und die einschüchternde Wirkung des heimischen Sicherheitsapparats. Zudem gibt es seit Jahren bereits keine kritischen Medien oder NGOs im Land mehr – jene Institutionen, die notwendig sind, damit sich lokale Demonstrationsbewegungen gemeinsam koordinieren können. Zudem richtet sich der Frust vieler Chinesen vor allem gegen die Coronamaßnahmen, nicht jedoch gegen die Zentralregierung in Peking. Sie sehen die exzessiven Lockdowns als Machtmissbrauch lokaler Nachbarschaftskomitees, weniger als notwendigen Auswuchs eines totalitären Systems.“
Der Covid-Frust schweißt zusammen
Dagens Nyheter sieht in China eine neue Solidarität wachsen:
„Die Proteste sind normalerweise leicht zu unterdrücken, weil China die Vielzahl zivilgesellschaftlicher Organisationen fehlt, die in weniger totalitären Gesellschaften oppositionelle Kräfte fördern und zusammenführen. Die Covid-Politik wird zu einer Art Ersatz dafür. Sie mobilisiert Reiche, Arme, Junge, Alte, Studenten und die Arbeiter in den iPhone-Fabriken. Sie bringt die städtische Mittelklasse in Shanghai dazu, mit den Unterdrückten im 4000 Kilometer entfernten Xinjiang zu sympathisieren. Und sie erklärt zum Teil, warum China jetzt den entscheidendsten Moment seit dem Frühjahr 1989 erlebt.“
Demonstrierende wollen echten Wandel
Público sieht in den Demonstrationen den Funken einer aufkeimenden Demokratiebewegung - in China und im Iran:
„Die Verzweiflung über die frustrierenden repressiven Covid-Maßnahmen gibt den chinesischen Demonstranten den Anstoß, ihre Unzufriedenheit auf die Straße zu tragen. Aber es wird deutlich, dass ihr Unbehagen tiefere Wurzeln hat, wenn sie es mit Slogans für die Absetzung von Präsident Xi Jinping, gegen Zensur und für Demokratie zum Ausdruck bringen. ... Es geht nicht nur um Covid, so wie es im Iran nicht nur um den Schleier und die Situation der Frauen ging. Die jungen Menschen in beiden Ländern wissen sehr wohl, dass das System gestürzt werden muss, um das Übel im Kern zu verändern und eine akzeptable Zukunft zu haben.“
Xi muss Fehler eingestehen
Staatspräsident Xi wird wohl die Corona-Strategie ändern müssen, meint The Times:
„Abgesehen davon, die Quarantäne für positiv Getestete von zehn auf acht Tage zu reduzieren, zeigt Xi wenig Bereitschaft, seine Null-Covid-Politik aufzugeben. In der Tat hat der chinesische Staatspräsident zu viel seiner eigenen politischen Autorität in diese Strategie investiert, als dass er jetzt einen Rückzieher machen könnte. Damit würde er einen politischen Fehler eingestehen müssen. Aber weiterhin auf einer Politik zu beharren, die es offensichtlich nicht schafft, die Ausbreitung von Covid erfolgreich einzudämmen und die von der Bevölkerung nicht mehr gestützt wird, wird zwangsläufig Proteste und politische Unruhen anheizen.“
Immunität sträflich vernachlässigt
Die falsche Corona-Politik rächt sich jetzt, so Jyllands-Posten:
„Es hat etwas Ironisches, dass das Land, welches der Ursprungsort der Pandemie ist, auch der Ort ist, an dem die Menschen noch immer gegen Corona kämpfen. Das ist völlig selbstverschuldet. Man beharrte darauf, nur den eigenen Impfstoff zu verwenden, obwohl dieser eindeutig weniger wirksam ist als die Impfstoffe, die vom Rest der Welt verwendet werden. Und durch seine brutale Shutdown-Politik, wo ein einziger Infektionsfall Städte mit mehreren Millionen Einwohnern wochen-, ja monatelang konsequent lahmlegt, wurde jede Form von Herdenimmunität verhindert. Ironisch ist es auch, wenn der Umgang mit dem bekanntermaßen aus China stammenden Virus nun auch die Regierung wie ein Bumerang trifft.“