Parlament-Stürmung in Brasilien: Gefahr gebannt?
Nach der Erstürmung des brasilianischen Parlaments, des Obersten Gerichtshofs und des Präsidentenpalasts durch Anhänger des Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro haben die Sicherheitskräfte die Lage wieder unter Kontrolle. Rund 1.500 mutmaßliche Täter wurden festgenommen. Präsident Lula da Silva kündigte die Aufarbeitung der Vorfälle an. Europas Presse bleibt jedoch alarmiert.
Bolsonaro trägt die Schuld
Die Verantwortung des Ex-Präsidenten betont Público:
„Jair Bolsonaro hat vier Jahre Hass und Lügen als Staatspolitik betrieben und ein Land hinterlassen, in dem Tausende von Menschen Fake-News für Realität halten, Realität für eine Meinung und Meinung für eine hohe Mauer, hinter der der Feind lebt. ... Bolsonaro hat, wie Donald Trump in den USA, einen Teil der brasilianischen Bevölkerung mit aufrührerischen Worten aufgehetzt, die populistischen Funken auf die trockene Weide der Leichtgläubigkeit losgelassen und sich in die USA in den Urlaub begeben, um ein Alibi zu haben, wenn die Straße explodiert. Und das ist jetzt geschehen.“
Der Schlüssel liegt in der Umverteilung
Die größte Herausforderung Lulas besteht in der Überwindung der Ungleichheit, urteilen die Historiker Olivier Compagnon und Anaïs Fléchet in Le Monde:
„Es kann nicht oft genug daran erinnert werden, wie sehr die brasilianische Gesellschaft von Ungleichheit geprägt ist und wie die extreme Diversität der sozioökonomischen Bedingungen automatisch die Idee eines gemeinsamen und durch die Regeln der Demokratie bestimmten Schicksals infrage stellt. Lulas größte Herausforderung besteht darin, die Idee einer gerechteren Verteilung des Wohlstands im Dienste eines erneuerten demokratischen Pakts wiederherzustellen. ... Es ist jedoch nicht sicher, ob die derzeitigen wirtschaftlichen Bedingungen ihm die Möglichkeit dazu geben.“
Genau wie die alten Faschisten des Estado Novo
Die Aufrührer von heute sind alte Bekannte, bemerkt Público:
„Seit dem Staatsstreich von Getúlio Vargas und der Errichtung des Estado Novo 1937 erlitt Brasilien immer wieder Staatsstreiche. Dieses große südamerikanische Land war ein Laboratorium für die makabersten Experimente der antikommunistischen Tyrannei. ... Weiße Männer bildeten den Großteil der Horde, die am Sonntag bei einem Putschversuch gegen Lula da Silva die Sitze der drei Staatsorgane in Brasília einnahm. Es gab kaum Frauen oder Schwarze, obwohl die Hälfte der Bevölkerung Brasiliens nichtweiß ist. Es sind dieselben wie immer: weiße Männer, die ihre Macht nicht verlieren wollen. Ihre Slogans lauten 'Vaterland, Familie, Gott und Freiheit', genau wie bei den alten Faschisten. Dies ist die Geschichte Brasiliens und Lateinamerikas.“
Erfolgreich abgewehrt
Für die taz gibt es auch eine gute Seite der Ereignisse:
„Die Eindringlinge konnten sich nicht durchsetzen. Brasiliens Demokratie erwies sich als wehrhaft. Zwar ließen viele Sicherheitskräfte den Bolsonaro-Mob passieren, doch der Putschversuch scheiterte. Die Stimmung im Land: Diese Angriffe gehören verurteilt. Jetzt müssen die Angreifer*innen gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden. Wenn man eine Wiederholung der Gewaltakte verhindern will, darf es keinen Zweifel daran geben, dass in der brasilianischen Gesellschaft kein Platz für Verschwörungstheorien und Putschgebaren ist.“
Auch unsere Demokratien sind verletzlich
Der Sturm aufs Parlament in Brasilien muss ein Weckruf sein, mahnt De Morgen:
„Demokratie ist niemals ein gegebener Zustand, sondern ein Tätigkeitswort. Daher sollten unsere Regierungen, Volksvertreter und Justiz bereits jetzt einen Stresstest durchführen: Könnte eine solche Meuterei auch hier geschehen? Lautet die Antwort 'nein', könnte das beweisen, dass unsere Institutionen stark genug sind und von Menschen geleitet werden, die das Gute wollen für die Bürger, die ihrerseits den drei Gewalten im Staat vertrauen. Andererseits ergeben Umfragen, dass es eine parteipolitische Polarisierung und sinkendes Vertrauen der Bürger in den Staat gibt. Also könnte die Antwort auch 'ja' sein.“
Daran dürfen wir uns nicht gewöhnen
Zu höchster Wachsamkeit ruft Aftonbladet auf:
„Ist dies die neue Normalität? Der Putschversuch fand fast genau zwei Jahre nach dem versuchten Staatsstreich beim Sturm auf den US-Kongress statt, und nur einen Monat nach dem bisher größten Anti-Terror-Einsatz in Deutschland, bei dem es ebenfalls darum ging, einen rechtsextremen Umsturzversuch abzuwenden. Und weltweit gibt es Berichte über Rückschritte der Demokratie. Man braucht schon Scheuklappen, um da kein Muster zu erkennen. ... Wie sich [die Lage in Brasilien] weiterentwickeln wird, ist unklar. Klar ist allerdings: So etwas wird wieder geschehen - die Frage ist nur, wann, wo und auf welche Weise. Ob es aber zur Normalität wird, das entscheiden wir.“
Noch gravierender als in Washington
Für Helsingin Sanomat kam der Angriff nicht überraschend:
„Es wäre schön, wenn man von dem Chaos am Sonntag hätte überraschter sein können, aber es lief wie nach Drehbuch. Bolsonaro hat schon lange vor der Wahl Misstrauen in den Köpfen seiner Anhänger gesät. … Was Bolsonaros Anhänger taten, ist in seinem Ausmaß viel schwerwiegender als das Eindringen der Trump-Anhänger in das Kongressgebäude im Januar 2021. Was sich am Sonntag in Brasília abspielte, wäre vergleichbar, wenn die Trump-Anhänger nicht nur den Kongress, sondern auch das Weiße Haus und den Obersten Gerichtshof der USA angegriffen und sich Zugang verschafft hätten. Offensichtlich ist auch der Umfang der Sachbeschädigung in Brasilien viel größer.“
Auch von Trump-Anhängern angepeitscht
Die Proteste wurden unter anderem vom früheren Chef-Strategen im Weißen Haus, Steve Bannon, angeheizt, analysiert BBC:
„In mehreren Folgen seines Podcasts und in Social-Media-Beiträgen schürten er und seine Gäste Vorwürfe einer vermeintlich 'gestohlenen Wahl' und von finsteren Machenschaften. Er verbreitete den Hashtag BrazilianSpring und ermutigte die Opposition noch, als Bolsonaro selbst schon das Ergebnis zu akzeptieren schien. ... Und wie bei dem, was in Washington am 6. Januar 2021 geschah, waren es falsche Berichte und Gerüchte, die dazu beitrugen, einen Mob anzuheizen, der Fenster einschlug und Regierungsgebäude stürmte, um seine eigene Sache voranzubringen.“
Populistischer Aufruhr wird exportiert
Hier zeichnet sich eine Tendenz ab, auf die sich Europa ebenfalls gefasst machen sollte, warnt La Stampa:
„Der aufrührerische Populismus breitet sich aus, er ist eine Art Vierte Internationale. Er nährt sich von der Unzufriedenheit des Volkes und lässt sich von charismatischen Führern inspirieren, die mit der Autokratie liebäugeln - Donald Trump, Jair Bolsonaro sind die klassischen Beispiele. ... Er kann leicht exportiert und instrumentalisiert werden. ... In Europa und im Westen sind Angriffe auf die Demokratie und ihre Institutionen, die darauf abzielen, Wahlergebnisse zu kippen, zu einem Risiko geworden, mit dem man rechnen muss.“
Passive Unterstützung von anderen Akteuren
Die zweifelhafte Rolle der Polizei beunruhigt The Economist:
„Während die Unruhen in Washington Lücken beim Geheimdienst und bei der polizeilichen Abstimmung enthüllten, verweist das brasilianische Pendant auf etwas viel Düsteres. Auch wenn es keine Beweise dafür gibt, dass die Polizei aktiv am Aufstand beteiligt war, blieb sie zumindest sehr passiv. Kurz nachdem die Stürmung des Kongresses von Brasília begonnen hatte, wurde eine Gruppe Polizisten dabei gefilmt, wie sie sich mit Protestierenden unterhielt, Selfies machte und das Chaos filmte, statt zu handeln und es zu stoppen. Anforderungen nach Verstärkung durch den Leiter der Senatspolizei wurden vom Gouverneur des Bundesstaats Brasília, einem Verbündeten von Bolsonaro, bis in den späten Nachmittag ignoriert.“
Demokratie braucht faire Verlierer
Corriere della Sera warnt vor Dämonisierungen:
„Das kriminelle Verhalten zielt darauf ab, eine Grundlage der Demokratie zu zerstören, nämlich die Anerkennung der Legitimität des Gegners. Die liberale Demokratie funktioniert so lange, wie die Besiegten bereit sind zurückzutreten, weil sie wissen, dass sie dank des freien Wahlwettbewerbs beim nächsten Mal wieder siegen könnten. Wird hingegen die gegnerische Partei als das absolut Böse angesehen, dann heiligt der Zweck die Mittel und sogar Gewalt wird akzeptabel. Es ist nicht nur ein Laster der Rechten, den Gegner zu dämonisieren - in dieser historischen Phase von Trump bis Bolsonaro sind es jedoch ihre politischen Parteien, die die krassesten Angriffe auf Institutionen dulden.“