Frankreichs Rentenreform: Ziehen die Bürger mit?
Nach langem Zögern will die französische Regierung nun die mehrfach angekündigte Rentenreform angehen. Laut den von Premierministerin Elisabeth Borne vorgestellten Plänen soll das Renteneintrittsalter bis 2032 schrittweise von 62 auf 64 Jahre angehoben werden. Gewerkschaften kündigten Protest an.
Pawlowsche Reflexe
Über die Reaktion der Gewerkschaften ärgert sich Le Figaro:
„Es war nicht nötig, auf die Vorstellung des Entwurfs zu warten, um vorherzusagen, wie es weitergehen würde, so institutionalisiert ist das Ritual schon: Erst kommt die große Empörung und dann die Drohung, das ganze Land zu blockieren. In einem Pawlowschen Reflex bringen sich die Truppen der CGT, SUD, FO und CFDT bereits in Stellung, um den öffentlichen Verkehr, die Kraftstoffversorgung und den Schulunterricht zu unterbrechen. An der Spitze stehen der öffentliche Dienst, dessen Rentendefizit ein Fass ohne Boden ist, sowie die Nutznießer von Sonderregelungen, die ihre Privilegien auch nach der Reform behalten werden.“
Frankreich muss mehr arbeiten
Der Beharren der Gewerkschaften auf Reduzierung der Arbeitszeit hat viel Schaden angerichtet, urteilt Le Point:
„Die Anzahl der über das gesamte Leben geleisteten Arbeitsstunden ist in Frankreich deutlich geringer als in anderen großen Industrienationen. … Es ist höchste Zeit, dass die Franzosen zugeben, dass es in der Wirtschaft keine Wunder gibt. Je weniger landesweit gearbeitet wird, desto weniger wird produziert, desto weniger Wohlstand wird geschaffen, desto weniger Wachstum wird erzeugt und desto geringer ist die Kaufkraft. Es ist höchste Zeit, sich von den malthusianischen Illusionen [Teilung statt Erhöhung der Arbeitsmenge] zu verabschieden, die seit Jahrzehnten noch größere wirtschaftliche Schäden anrichten als die keynesianische Droge des Defizits und der Schulden.“
Auch für die EU werden hier Weichen gestellt
Für Dagens Nyheter entscheiden die kommenden Wochen darüber, welche Strahlkraft Macron noch innerhalb der EU hat:
„Die Linke und die Populistin Marine Le Pen sind immer gegen Reformen. Die bürgerliche Partei, die Republikaner, könnte erwägen, dem liberalen Macron gegen bestimmte Gegenleistungen durch das Parlament zu helfen. Zugegeben, sicher ist es nicht. Als Macron gewählt wurde, wollte er zeigen, dass Frankreich durchaus modernisierbar ist, und damit Deutschland bei der Neugestaltung der gesamten EU mit ins Boot nehmen. Der Erfolg bei der Rentenreform ist daher ein wichtiger Test für seinen Handlungsspielraum.“
Es wird höchste Zeit
L'Opinion drückt aufs Tempo:
„Na endlich! Nach vielen gescheiterten Versuchen und Verzögerungen ist die Rentenreform nun endlich in Gang gekommen. Endlich wird Frankreich anfangen, seinen Rückstand gegenüber den großen europäischen Ländern aufzuholen, die ein vergleichbares Sozialmodell haben und die bereits mehr oder weniger alle das Rentenalter auf über 65 Jahre angehoben haben. Aber man hat es nicht gerade eilig: Die Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters wird erst 2032 erreicht, und zwar nicht mit 65, sondern mit 64 Jahren. Das ist ein bedauerlicher Rückschritt gegenüber dem ursprünglichen Wahlversprechen Macrons.“
Die Stunde der Wahrheit
Ein gewagter Moment für die Rentenreform, urteilt Le Soir:
„Frankreich sitzt auf einem Vulkan, aber genau diesen Moment hat Emmanuel Macron gewählt, um eine gewagte Rentenreform in Angriff zu nehmen. … Diese Baustelle wird die Stunde der Wahrheit für seine fünfjährige Amtszeit einläuten. … Es wird ein enormes Talent erfordern, die bereits ablehnende Meinung der Bevölkerung umzudrehen und sie davon zu überzeugen, dass die Entscheidungen nicht auf Kosten der Schwächsten gehen werden. Denn eine Erhöhung des Renteneintrittsalters wird nicht alle gleichermaßen treffen, Führungskräfte nicht genauso wie Menschen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen und solche, die schwere körperliche Arbeit leisten.“
Macron muss besser erklären
Der Präsident mag zwar in der Sache Recht haben, erweist sich aber wieder einmal als schlechter Kommunikator, schreibt Stefan Brändle, Wirtschaftskorrespondent in Paris, in der Frankfurter Rundschau:
„Französinnen und Franzosen empfinden es als Starrsinn eines Staatschefs, der nur seinen persönlichen Erfolg im Auge hat und nicht auf die 68 Prozent seiner Bürgerinnen und Bürger hört, die gegen die Reform sind. Statt ihnen plausibel zu erklären, dass die Finanzierung ihrer eigenen Renten bedroht ist, deklamiert er, die Bürgerinnen und Bürger müssten 'mehr arbeiten'. Das läuft zwar auf dasselbe hinaus, kommt aber falsch an in einem Moment, da die Löhne im Land inflationsbedingt schrumpfen.“
Große Mehrheit ist dagegen
Vielschichtiger Protest wird sich regen, erwartet Chefredakteur Dov Alfon in Libération:
„Unweigerlich wird es Arbeitnehmer geben, die als erste unter den vorgeschlagenen Änderungen leiden werden. Wie zum Beispiel die heute 62-Jährigen und vor allem diejenigen, die bis 64 weiterarbeiten müssen, obwohl sie bereits ihre maximalen Rentenansprüche erworben haben. Hinzu kommen noch Millionen Arbeitnehmer, die in diesem Alter aufgrund jahrelanger harter Arbeit unter schweren Gesundheitsproblemen leiden werden. Das sind viele Franzosen, die sich von diesen Vorschlägen bedroht fühlen könnten, ganz zu schweigen von der großen Mehrheit der Arbeitnehmer, die sich gegen eine Erhöhung auf 64 Jahre ausspricht, obwohl sie weniger stark betroffen ist.“
Nicht nur in Frankreich heikel
Rentenreformen stoßen auch anderswo auf Widerstand, beobachtet Večernji list:
„Die Erhöhung des Rentenalters ist eine der kontroversesten politischen Fragen. In ganz unterschiedlichen Ländern wurden deswegen große Proteste organisiert - von Russland über Chile, Spanien, Griechenland bis nach Kroatien und sogar in China. ... Der Widerstand gegen ein höheres Renteneintrittsalter ist eine der seltenen Fragen, in der sich Protestler aus einer ganzen Reihe von Ländern einig sind, oft unabhängig davon, ob sie sich als Linke oder Rechte betrachten. Vor fünf Jahren haben große Demonstrationen kurz die Popularität des Regimes des russischen Präsidenten Putin erschüttert. ... Die Spanier demonstrierten 2010, die Griechen 2015 und die Schweizer im September letzten Jahres.“