Quiet Quitting: Ändert sich die Arbeitsmoral?
Die Arbeitszeit reduzieren, so früh wie möglich in Rente gehen, sich im Job nicht mehr engagieren, als unbedingt nötig: Unter dem diffusen Schlagwort Quiet Quitting wird eine neue Arbeitsmoral debattiert, die einige Kommentatoren aus individueller Sicht nachvollziehen können - während andere sie aus gesellschaftlicher Sicht problematisch finden.
Man muss nicht fürs System rackern
Die eigenen Interessen im Blick zu haben, hat nichts mit Faulheit zu tun, stellt Göteborgs-Posten fest:
„Es ist okay, zu arbeiten, um zu leben, und nicht umgekehrt. ... Es ist ausgezeichnet, dass wir das Wachstum und die Effizienz des Arbeitslebens nutzen können, um weniger Stunden zu arbeiten. So haben wir das immer gemacht: Du hast die moralische Pflicht, wenn du gesund bist, dich selbst zu ernähren. Aber es kann keine Vorgabe sein, dass man für das 'System' arbeitet. Es ist eine nicht-liberale und unzivilisierte Ansicht, dass man sich bei seinen Entscheidungen im Leben von den Interessen des Kapitalismus und des Staates leiten lassen sollte.“
Luxus-Allüren, die den Sozialstaat schwächen
Wo weniger erwirtschaftet wird, ist auch weniger zum Teilen da, mahnt der Kurier:
„Mitarbeiter - und es sind nicht mehr nur die Jungen - wünschen und verlangen kürzere Arbeitszeiten. ... Das Weniger-Syndrom trifft die Wirtschaft zur Unzeit: wenn die wichtigsten Indikatoren nach unten zeigen, die Inflation wütet, Rezession droht, dann ist die neue gesellschaftliche Gemütlichkeit ein Luxusanspruch, den man sich nicht leisten kann. Der Sozialstaat, auf den wir stolz sind, wird geschwächt, wenn er nicht durch die hohen Leistungen vieler und die daraus resultierenden Steuern gespeist wird. ... Es muss klar sein: weniger bedeutet letztlich weniger für alle.“
Schon im Römischen Reich ein Thema
Anlässlich des Rücktritts von Jacinda Ardern und weiteren Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens urteilt Slate, dass es immer anerkannter ist, sich trotz beruflicher Erfolge zurückzuziehen:
„Politische Karrieren über mehrere Jahrzehnte werden immer seltener. Wenn man einem Politiker sagt, dass er durchhält, ist das (mittlerweile?) kein Kompliment mehr. Ein Zeichen der Zeit: 2013 trat Papst Benedikt XVI. freiwillig von seinem Amt zurück – ganz im Gegensatz zu seinen Vorgängern, die darauf warteten, dass der Himmel sich darum kümmert. Unsere politische Vorstellungswelt bevorzugt nun Cincinnatus, den römischen Diktator, der zu seinen Pflügen zurückkehrte. ... Dies geschah auf Kosten von Cäsar - der übrigens starb, weil er nicht rechtzeitig zurückgetreten war.“
Suche nach Sinn wird schnell enttäuscht
Teilweise sind es besonders hohe Erwartungen, die im Job zu Frust führen, analysiert Le Temps im Hinblick auf die Proteste gegen die Rentenreform in Frankreich:
„In Frankreich, vielleicht mehr als irgendwo sonst, muss ein Beruf erfüllend sein. Mehr noch: Er bestimmt den Platz in der Hierarchie der Gesellschaft. ... Deshalb erwarten die Franzosen sehr viel von ihrem Arbeitsplatz. … Doch in einer Gesellschaft des Misstrauens und voller konfliktreicher Arbeitsbeziehungen wird das fast mystische Bedürfnis schnell von der Realität eingeholt. … Man will sich nicht wie eine Maschine fühlen, legt die Hände in den Schoß und möchte das Schiff so schnell wie möglich verlassen. Denn mehr noch als die Frage nach dem Sinn der Arbeit stellt sich die Frage nach dem Sinn des Lebens.“