Russland: Wohin führt die digitale Rekrutierung?
Die russische Staatsduma hat Gesetzesänderungen beschlossen, mit denen ein digitales Zentralregister für die Rekrutierung Wehrpflichtiger eingeführt wird. Einberufungsbescheide können fortan elektronisch zugestellt werden. Die möglicherweise immensen Auswirkungen auf Militär und Gesellschaft analysieren Kommentatoren.
Gängige Vermeidungsstrategien verhindert
Polityka analysiert:
„Die wichtigste Änderung besteht darin, dass die Einberufung sieben Tage, nachdem sie in die elektronische Akte eingetragen wurde, den Status 'zugestellt' erhält - unabhängig davon, ob die betreffende Person die Mitteilung erhalten hat oder nicht. ... Der Kreml hat damit die gängigsten Methoden zur Vermeidung des Militärdienstes eliminiert: Bisher reichte es aus, die Post nicht abzuholen, sich in der Wohnung einzuschließen, Fremden nicht zu öffnen oder sich selbständig zu machen. Es wird auch nicht mehr helfen, die Stadt zu verlassen, und es wird unmöglich sein, aus Russland zu fliehen - von dem Moment an, in dem eine Aufforderung ergeht, bei der Einberufungsbehörde zu erscheinen, ist es dem Rekruten verboten, das Land zu verlassen.“
Mobilmachung wird unsichtbar
Die Rekrutierung könnte nun viel effektiver werden, analysiert Delfi:
„Wenn im vergangenen Jahr viele Geschichten und Bilder von Mobilisierungen ans Licht kamen, die nicht so reibungslos verliefen, wie der Kreml es sich wünschte, wird dies nun vermieden. ... Moskau könnte zusätzlich 200.000 bis 300.000 Mann in den Krieg schicken, um die erwartete ukrainische Gegenoffensive zu vereiteln. 200.000 Mann sind nur 0,5 Prozent der im Register erfassten Personen. Es ist leicht, diese Zahl zu verschleiern, sie auf ganz Russland zu verteilen. Das elektronische System erleichtert zudem eine Dauermobilisierung. Im Frühjahr werden 200.000 Soldaten einberufen, im Sommer weitere 200.000 und so weiter.“
Digitaler Totalitarismus nach Chinas Vorbild
LRT befürchtet den totalen Überwachungsstaat:
„Putins Regierung nutzte die Pandemie, um sich auf ein solches totalitäres System vorzubereiten. In den Regionen wurden zahlreiche Kameras installiert und Personenidentifikationssysteme eingeführt. Sie wurden eingesetzt, um diejenigen aufzuspüren, die gegen die Quarantänebestimmungen verstießen, und die Beamten sammelten viele Erfahrungen mit verschiedenen digitalen Technologien. Russland ist bereit, die chinesischen Erfahrungen zu übernehmen und sie viel schneller und strenger umzusetzen. Schließlich erfordern die Kriegsbedingungen dies. Der Kreml bereitet sich auf die Einführung eines echten digitalen Totalitarismus vor.“
Abtauchen in die innere Emigration
Journalist Maxim Trudoljubow spekuliert auf Facebook, wie die russische Gesellschaft nun wohl reagiert:
„Von außen wird man wieder einmal fragen, warum die russische Gesellschaft nicht protestiert. Aber sie protestiert, nur nicht wie die Franzosen auf der Straße, sondern auf die übliche und bewährte Weise: mit Flucht. Die Flucht ins Ausland ist nur die Spitze des Eisbergs. Die Hauptflucht findet im Inland statt, weil eine Ausreise teuer und schwierig ist und man nicht weg will. Sie erfolgt durch die Überschreibung von Eigentum auf Verwandte, Steuerhinterziehung, das Leben in einer 'Garagenwirtschaft' [Schwarzarbeit und gegenseitige Hilfe], Umzüge, dem Meiden der Meldeadresse usw. ... Dieses Gesetz gibt der Gesellschaft einen weiteren starken Impuls, vor dem Staat zu fliehen.“
Fortschritt im Dienste des Rückschritts
Oppositionspolitiker Lew Schlosberg sieht in einem von Echo übernommenen Telegram-Post nicht nur die Bürger, sondern auch den Fortschritt bedroht:
„Eine der ersten Folgen der Gesetze über 'digitale Rekrutierung' und 'Online-Vorladungen' war die Abwanderung vieler junger Menschen aus Online-Diensten, insbesondere das Löschen von Konten auf der Webseite von Gosuslugi [Russlands Behördenportal]. Ich denke, die Folgen können vielfältig sein und werden sich auch auf Bankkonten und andere Dienstleistungen ausweiten. Die Menschen werden im wahrsten Sinne des Wortes abtauchen. ... Technologischer Fortschritt im Dienste des politischen Rückschritts führt zu ausgefeilteren repressiven Praktiken und nicht zu Entwicklung.“