Angriff auf Russland: Was ist in Belgorod los?
Am frühen Montagmorgen sind Stoßtrupps von ukrainischem Gebiet mehrere Kilometer in die russische Grenzregion Belgorod vorgedrungen und haben sich dort festgesetzt. Doch wer waren die Eindringlinge? Oppositionelle russische Paramilitärs reklamierten die Angriffe für sich. Kyjiw wies jede Beteiligung von sich. Der Kreml behauptet, den Vorstoß abgewehrt zu haben. Am Mittwoch wurden aus Belgorod erneut Drohnen-Angriffe gemeldet. Kommentatoren ordnen ein.
Umstürze haben in Russland Tradition
Eine bewaffnete Revolte hält Rzeczpospolita durchaus für möglich:
„Die durchlässige Grenze, die Kämpfe um die Region Belgorod und die anhaltenden Ablenkungsmanöver in verschiedenen Regionen zeigen, dass eine bewaffnete Rebellion in Russland mehr als ein Jahrhundert nach der Revolution von 1917 und dem Bürgerkrieg wieder möglich ist. Der Kult des bewaffneten Widerstands gegen die Mächtigen wird in Russland seit Jahrzehnten gepflegt - und nicht erst seit der Sowjet-Ära. Lenins Mausoleum steht immer noch im Herzen der russischen Hauptstadt, wobei Lenin nicht durch 'friedliche Proteste' an die Macht gekommen ist.“
Ein Problem für Washington
Russische Kanäle haben Bilder von mutmaßlich in Belgorod verlassenen westlichen Militärfahrzeugen verbreitet - darunter Humvees aus US-Produktion. Lidové noviny spekuliert:
„Das könnte Zufall gewesen sein. Die Ukrainer bewaffneten die russischen Freiwilligen mit dieser Technik, weil sie darüber verfügten und sich nicht viel dabei dachten. Oder es war kein Zufall und sie wollten zeigen, dass sie sich beim Einsatz westlicher Technologie nicht einschränken werden. Wie dem auch sei, es ist ein Problem für Washington und verärgert einige Politiker dort. So haben die Amerikaner denn auch bereits wiederholt, dass die Ukrainer keine Erlaubnis haben, diese Technologie an paramilitärische Organisationen zu übergeben oder damit russisches Territorium anzugreifen.“
Trickreiche Retourkutsche
Die Ukraine nutzt nun einen Trick, den einst Russland angewandt hat, so der Exil-Oligarch Michail Chodorkowski in einem von Echo übernommenen Telegram-Post:
„Als Putin 2014 das Schema mit 'lokalen Milizen' und 'Bürgerkrieg' im Donbass ausheckte, ahnte er nicht, dass dieses Spiel zu zweit gespielt werden könnte. ... Jetzt sehen wir, wie russische Hubschrauber auf russischem Territorium auf russische Bürger schießen. ... Dieser Ausfall ist eine weitere Erinnerung daran, dass man nicht in ein anderes Land einmarschieren, einige Städte zerstören und dann diktieren kann, wie sich dieses Land gegen die Invasion wehren darf. Nach internationalem Recht kann die Ukraine das Territorium des Aggressorstaates angreifen und die Kampfhandlungen auf russisches Territorium tragen.“
Die russischen Grenzen sind ungeschützt
Der Angriff zwingt Russland, Truppen aus der Ukraine abzuziehen, meint der Militärexperte Jevhen Dikij in Ukrainske Radio:
„Zum ersten Mal während des Krieges befindet sich ein Stück anerkanntes russisches Territorium nicht unter Moskaus Kontrolle. Und nun werden sie Truppen dorthin verlegen, um die russischen Freiwilligen oder diejenigen, die mit ihnen gekommen sind, zu vertreiben. Und woher werden sie diese Truppen nehmen? Ich bezweifle sehr, dass es im russischen Hinterland noch ausreichend kampffähige russische Einheiten gibt, die nicht bereits in der Ukraine kämpfen. Sie werden also höchstwahrscheinlich von der Front abgezogen werden.“
Strategie der tausend Nadelstiche
Der Angriff der russischen Milizen ist ein neues Kampfinstrument gegen Moskau, analysiert Le Figaro:
„Er legt die Verletzbarkeit des größten Landes der Welt dar, dem es sehr schwerfällt, seine 1.500 Kilometer lange Grenze zur Ukraine zu schützen. Er zeigt auch die Ablenkungs- und Überraschungsfähigkeit. ... Zudem sendet er das Signal, dass alles möglich ist, einschließlich einer Ausweitung des Konflikts, die nicht auf den vom Westen gelieferten Waffen beruht. ... Sondern in einer Strategie der tausend Nadelstiche, um den Bären im Kreml zu ängstigen. In diesem Krieg haben wir noch nicht alles gesehen, die Ukrainer haben gerade eine neue Waffe gezogen - eine russische. Was halten sie morgen für den unvorsichtigen Angreifer bereit?“
Moskau hat ein Sicherheitsproblem
Die Angriffe könnten demoralisierend auf Putins Anhänger wirken, glaubt die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Diese Kämpfer sind weit davon entfernt, Putins Regime stürzen zu können; mit ihrer kruden antiimperial-ethnonationalistischen Ideologie dürften sie in der russischen Bevölkerung wenig Anklang finden. Aber die Brandanschläge auf Kriegskommissariate und Bahngleise im Landesinneren zeigen, dass diese innerrussische Front für die Machthaber zu einem echten Sicherheitsproblem werden kann. Aktionen wie der Einfall in das Belgoroder Gebiet ermutigen gewaltbereite Gegner Putins und wirken demoralisierend auf dessen Anhänger.“
Vorgeschmack auf instabile Zukunft
La Croix zweifelt, ob solche Aktionen ihren Preis wert sind:
„Wir erinnern uns an die Beschädigung der Krim-Brücke und jüngst die rätselhaften Drohnenangriffe am Kreml. Solche Aktionen werden jedes Mal von Wladimir Putin ausgenutzt, um den Einfall in die Ukraine zu rechtfertigen und seine Bevölkerung neu zu mobilisieren. Die Propagandisten des Regimes werden es sich nicht entgehen lassen, diesen Vorstoß für sich zu nutzen, zumal eine der offenbar beteiligten Gruppen von einer Person angeführt wird, die der offen neonazistischen Hooligan-Szene zugerechnet wird. ... Diese bislang isolierten Ereignisse bieten eine Vorstellung von der Instabilität, in die Europa abrutschen wird, sobald die Gegenoffensive erfolgt.“