Massenproteste in Polen: PiS in Bedrängnis?
In Warschau haben mehrere Hunderttausend Menschen gegen die polnische Regierung demonstriert. Auslöser ist ein neues Gesetz über die Einsetzung einer Untersuchungskommission zu russischer Einflussnahme im Land. Kritiker befürchten, die Regierungspartei PiS könnte das Gesetz missbrauchen, um Oppositionspolitiker ohne Gerichtsbeschluss von Ämtern auszuschließen. Im Herbst wählt Polen ein neues Parlament.
Eine starke Zivilgesellschaft wehrt sich
Dagens Nyheter würdigt die Massendemos als positives Zeichen:
„Der wahre Kampf für die polnische Demokratie ist nationaler Natur. Er erinnert uns vor allem an die Stärke der polnischen Zivilgesellschaft. Die Polen haben eine lange Geschichte der umfassenden Mobilisierung zur Verteidigung liberaler Werte. Viele derjenigen, die an den Protesten teilnahmen, erinnern sich noch an den Fall des Kommunismus und die Einführung der Demokratie. Jetzt gehen sie auf die Straße, um sie zu verteidigen.“
In der Wahrnehmung gespalten
Auf dem Weg zum Machtwechsel liegen noch einige Hindernisse, schreibt der Tagesspiegel:
„[Ex-Präsidentschaftskandidat Szymon] Holownia und andere Galionsfiguren der Opposition folgten Tusks Einladung nicht, geschlossen aufzutreten. ... Aus den Nachrichten im populären Radioprogramm 'Trójka' war nicht zu erfahren, dass Polen die größte Kundgebung seit Jahrzehnten erlebt. Der staatliche TV-Sender TVP stellte den 'Marsch der Hoffnung' als 'Marsch des Hasses' dar. ... So bleibt Polen in der Wahrnehmung gespalten. Wer Oppositionsmedien nutzt, sah Szenen der Massenbegeisterung und des Aufbruchs. Für jene, die sich über staatliche Sender informieren, hat sich nichts Besonderes ereignet, nur der übliche Lagerstreit.“
Wohlstand ja, Zusammenhalt nein
Echo24 beklagt die heutige Zerrissenheit der Gesellschaften in Ost-Mitteleuropa:
„Wer sich noch an all die heruntergekommenen Häuser, rostigen Züge und den Abgasgeruch in der Luft erinnert, kann nicht daran zweifeln, dass es uns wirtschaftlich heute viel besser geht. Aber inzwischen scheint es, als hätten wir im Namen der Hoffnung auf eine bessere Zukunft irgendwie eine wichtige immaterielle Komponente verloren. An ihre Stelle traten Polarisierung, endlose Nullsummenspiele und die große Angst, dass die nächste verlorene Wahl die letzte sein wird und dass die siegreichen Gegner uns danach auf verschiedenen legalen Wegen dezimieren werden, sodass nichts ihre weitere Herrschaft stören kann.“
Spektakuläre Wut
Der Vorsitzende der PiS hat sich diesmal gründlich verrechnet, meint Tygodnik Powszechny:
„Es spielt keine Rolle, ob 200.000 oder eine halbe Million Regierungsgegner demonstrierten. Das Gesetz über die Kommission zum Aufspüren russischer Agenten löste spektakuläre Wut aus - viel mehr als nach dem Urteil des Verfassungsgerichts zur Abtreibung - und ermöglichte es Donald Tusk, in die Offensive zu gehen. ... Der Versuch, den wichtigsten Oppositionspolitiker per Verwaltungsakt auszuschließen, ist ein Beweis dafür, dass Jarosław Kaczyński sein Gespür verloren hat und über das Ziel hinausgeschossen ist.“
Nun könnte es eng werden
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hält es für möglich, dass die Kundgebung vom Wochenende einen Wendepunkt markiert:
„Eine Schwäche der Opposition war bisher ihre Uneinigkeit. Ein Grund dafür war der Führungsanspruch Tusks, dem sich nicht alle beugen wollten. Angesichts der gesetzgeberischen Attacke auf den stärksten Oppositionspolitiker, ohne den ein Regierungswechsel derzeit nicht möglich wäre, hat sie nun ihre Reihen geschlossen und zugleich ihre soziale Basis verbreitert. Das hat die Demonstration am Sonntag zur wohl größten in den drei Jahrzehnten der polnischen Demokratie werden lassen. Wenn es den Oppositionsparteien gelingt, dieses Momentum bis zur Wahl aufrechtzuerhalten, wird es für die PiS sehr schwierig.“
Die Provinz entzieht der PiS das Vertrauen
Laut Krytyka Polityczna hat jenseits der Metropolen ein Umdenken eingesetzt:
„Die Beteiligung war rekordverdächtig: Menschen aus kleinen Städten und Gemeinden strömten nach Warschau. Dies könnte ein Zeichen dafür sein, dass die Regierung auf dem Zahnfleisch geht und dass die Kraftreserven [der Opposition] nicht in den lauten und großen Metropolen, sondern in der stillen Provinz liegen, die endlich genug vom Regierungsfilz hat. Und dem Streben nach einer Vierten Polnischen Republik Einhalt gebieten wird, so wie sie der PiS in den letzten Jahren bei jeder Wahl das Vertrauen geschenkt hat.“
Demokratisches Polen wichtiger denn je
Tschechien darf nach Meinung von Deník nicht zusehen, wenn die Demokratie im Nachbarland gefährdet wird:
„Warschau sah am Sonntag die größten regierungsfeindlichen Proteste seit denen von Solidarność Anfang der 1980er Jahre. Es ist ein gutes Zeichen, dass die Polen sich ihre Demokratie nicht wegnehmen lassen. Heute, inmitten des Krieges zwischen der freien Ukraine und Russlands Putin-Totalitarismus, brauchen wir Tschechen mehr denn je auch die volle Demokratie in Polen, einem Schlüsselstaat der Hilfe für Kyjiw. Es liegt in der Verantwortung tschechischer Politiker, insbesondere derjenigen der größten Regierungspartei ODS, die einen direkten Draht zur PiS haben, sich für die Aufrechterhaltung der polnischen Demokratie einzusetzen. “