AKW Saporischschja: Droht ein Anschlag?
Der ukrainische Militärgeheimdienst SBU hat wiederholt vor einem russischen Anschlag auf das Atomkraftwerk Saporischschja und einer Verminung des Kühlwasserbeckens gewarnt. Präsident Selenskyj erklärte zudem am Dienstag, auch auf den Dächern seien sprengstoffähnliche Vorrichtungen angebracht worden. Moskau warnte seinerseits, die Ukraine plane einen Anschlag. Kommentatoren bewerten die Gefahr unterschiedlich.
Die Angst ist begründet
Ein Anschlag ist nicht auszuschließen, befürchtet Corriere della Sera:
„Die neue russische Strategie ist nicht mehr auf die Eroberung neuer Gebiete ausgerichtet, sondern darauf, die im Südosten des Landes besetzten Gebiete mit Bunkern und Minenfeldern zu verteidigen. Gerade diese Strategie der Verteidigung um jeden Preis macht den Ukrainern Sorgen. Wenn Putin nicht davor zurückschreckt hat, mit der Zerstörung des Kachowka-Staudamms eine humanitäre und ökologische Tragödie zu verursachen, so gibt es laut Selenskyj und seinen engsten Mitarbeitern gute Gründe für die Annahme, dass er bereit ist, einen nuklearen Unfall zu verursachen, um den ukrainischen Vormarsch zu blockieren oder zumindest aufzuhalten.“
Angriffe auf russisches Territorium würden möglich
Falls es tatsächlich zu einem Anschlag auf das Kernkraftwerk kommen sollte, würde das die letzten Vorbehalte gegenüber der Lieferung von Angriffswaffen ausräumen, spekuliert der Politologe Wolodymyr Fessenko in NV:
„Jeder Zwischenfall im AKW Saporischschja, Gott bewahre, mit schwerwiegenden Folgen, wird eine sehr harte Reaktion des Westens zur Folge haben, und von einer Einigung mit Putin würde dann keine Rede mehr sein. ... Außerdem bedeutet dies, dass wir die Waffen erhalten würden, die es uns ermöglichen, das russische Territorium anzugreifen. Das heißt, die Reaktion könnte wie folgt aussehen: keine direkte Beteiligung der Nato am Krieg gegen Russland, aber die Bereitstellung von Waffen, die es uns ermöglichen, russisches Territorium anzugreifen.“
Manipulation könnte auch im Spiel sein
Die Angst um das Schicksal des AKWs wird womöglich nicht zufällig gerade jetzt geschürt, spekuliert La Croix:
„Die Ungewissheit sorgt in den Nachbarländern weiter für Besorgnis, denn eine eventuelle radioaktive Wolke würde sie treffen. Doch einige dieser Staaten - Polen und die baltischen Länder - zählen zu den entschlossensten Verbündeten Kyjiws. Auf dem Nato-Gipfel kommende Woche werden sie darauf drängen, dass das Nordatlantik-Bündnis der Ukraine seine Türen öffnet. Dieses wichtige Treffen erklärt übrigens vielleicht den Alarmzustand um das Atomkraftwerk. Der Kontext eignet sich für Manipulationsvorgänge. Denn der Krieg findet auch auf dem Gebiet Desinformation statt.“
Eher Drohkulisse als realistisches Szenario
Dass Russland bewusst einen Zwischenfall herbeiführen wird, glaubt Jutarnji list nicht:
„Das Institute for the Study of War (ISW) [Thinktank aus den USA] hält es für wenig wahrscheinlich, dass Russland einen radiologischen Zwischenfall am AKW Saporischschja hervorrufen würde, da man die Auswirkungen der Havarie nicht kontrollieren könnte. Das würde die Fähigkeit Russlands, die besetzten Gebiete im Süden der Ukraine zu kontrollieren, gefährden. Das ISW schätzt, dass die Folgen solch einer Tat jeden Nutzen für die russischen Kräfte übersteigen würde. ... Russland wird aber wahrscheinlich weiterhin mit einem radiologischen Zwischenfall drohen, um die ukrainische Gegenoffensive zu begrenzen und die westliche Militärhilfe abzuschwächen.“
Einer atomaren Provokation die Stirn bieten
Michajlo Podoljak, Berater des Chefs der Präsidialadministration, fordert auf Twitter und Gordonua.com klare Kante der Staatengemeinschaft gegen eventuelle Aktionen der russischen Kräfte am und im AKW:
„Eine einzige öffentliche Erklärung der führenden Politiker der Welt könnte uns schon von einem Terroranschlag auf Europas größtes Kernkraftwerk trennen: 'Jede Provokation Russlands im AKW Saporischschja wird sofort mit dem Einsatz taktischer Atomwaffen gleichgesetzt werden, mit den entsprechenden konkreten Konsequenzen.' Aber was hören wir stattdessen? Ein absolutes und vielsagendes Schweigen. ... Wäre es nicht an der Zeit, nicht immer wieder den gleichen Fehler zu machen?“
Es droht kein zweites Fukushima
Sollte es eine Katastrophe am AKW geben, würde die umlegende Gegend immerhin nicht unbewohnbar, erklärt Mikola Gawris, Dozent am Polytechnischen Institut in Charkiw, in Dserkalo Tyschnja:
„Das größte Risiko besteht darin, dass die Russen das AKW wahrscheinlich nicht friedlich verlassen werden, wenn es für sie an der Zeit ist, zu fliehen. Sie würden wahrscheinlich versuchen, entweder das Trockenlager oder die Becken für abgebrannte Brennelemente zu sprengen. Im ersten Fall wird die Umgebung kontaminiert, aber der größte Teil der radioaktiven Stoffe verbleibt im Lager. Im zweiten Fall werden die Innenräume des AKW Saporischschja erheblich kontaminiert. Außerhalb des Geländes wird es jedoch fast keine radioaktive Kontamination geben. Eine Evakuierung in größerem Umfang oder gar eine Sperrzone wären nicht erforderlich.“
IAEA verharmlost Minen
Olga Koscharna, ehemaliges Mitglied des Kollegiums der ukrainischen Atomaufsicht, ärgert sich, dass der IAEA-Bericht zu den Minen rund um das AKW meint, sie würden die wichtigsten Sicherheitsfunktionen nicht beeinträchtigen. Sie wirft IAEA-Chef Rafael Grossi in NV daher Parteilichkeit zu Gunsten Russlands vor:
„Solche Aussagen zeigen deutlich, dass Grossi Nuklearterroristen aus Russland im AKW Saporischschja duldet. Das Foto, das ihn in den Armen von Renat Kartschaa zeigt (in den russischen Staatsmedien wird Kartschaa als 'Nuklearexperte' und Berater des Rosatom-Chefs bezeichnet - NV), und seine herzlichen Worte an ihn am Ende der Mission sowie seine Äußerungen während des Briefings im AKW sind dokumentarische Beweise dafür, dass der Chef der internationalen Organisation im Sinne der Besatzer handelt.“