Welche Folgen haben Drohnenangriffe auf Moskau?
In Moskau wurde ein Büroturm zweimal im Abstand von drei Tagen durch Drohnen getroffen – was gegen die offizielle russische Darstellung spricht, anfliegende Flugkörper würden allesamt zum Absturz gebracht. Das russische Verteidigungsministerium machte die Ukraine für den Angriff verantwortlich. Präsident Selenskyj sprach davon, dass der Krieg allmählich nach Russland zurückkehre, was "natürlich und unvermeidlich" sei.
Gut so - wenn keine Zivilisten ins Visier geraten
Fernsehmoderator Serhij Pritula warnt auf NV vor Drohnenangriffen, die die Zivilbevölkerung gefährden:
„Wir unterscheiden uns von den Russen dadurch, dass wir mit Präzision zuschlagen. Die absolute Wahllosigkeit der von den Russen getroffenen Ziele in der Ukraine ist genau der Grund, warum sie nicht anders als Verrückte wahrgenommen werden, denen es egal ist, ob es sich um eine militärische Einrichtung oder um ein Hochhaus in Dnipro handelt. ... Sollte eine große Zahl von Zivilisten durch unbekannte Drohnen oder Artilleriebeschuss umkommen, könnte das zwar eventuell ukrainische Nutzer sozialer Medien erfreuen, die 'Endlich Vergeltung!' rufen. Aber die westliche Gesellschaft wird sehr empfindlich auf solche Dinge reagieren. Und dann könnte die Sache kippen.“
Auch verbal eine klare Strategie
Die Ukraine tut gut daran, sich zu solchen Angriffen zu bekennen, meint das Webportal Liberal:
„Kyjiw gelingt es, den russischen Bürgern, denen die staatliche Propaganda seit 18 Monaten versichert, Wladimir Putin gewänne die 'besondere Militäroperation', einen schweren psychologischen Schlag zu versetzen. ... Die Ukraine gibt nicht nur die Taktik des Schweigens oder der Unklarheit in Bezug auf die Angriffe auf, die bisher russische Regionen in der Nähe des Kriegsgebiets, die annektierte Halbinsel Krim und Moskau selbst getroffen haben, sondern entwickelt auch öffentlich eine Strategie für die Drohnenangriffe auf russisches Gebiet, die sie als legitim bezeichnet.“
Aufbrechen der apathischen Stille
Die Drohnenangriffe sollen innerrussischen Widerstand erwecken, meint Der Standard:
„Das Selbstverteidigungsrecht, das der Ukraine nach dem unprovozierten Angriff Russlands zugesprochen werden muss, erlaubt es Kiew, sämtliche Gebäude von militärischer Relevanz auf russischem Territorium anzugreifen. … Die Vermeidung ziviler Opfer muss aber möglichst prioritär bleiben. Das schaffte Kiew bisher erstaunlich gut. Die Nervosität vieler russischer Stimmen in sozialen Medien zeigt zudem gut, dass die Bombardierung militärischer Ziele in Moskau auch so schon enorme Wirkung hat. Womöglich schafft sie es sogar, eine kritische Masse in Moskau zum Widerstand zu motivieren, der bislang in erschreckender Weise ausblieb.“
Selenskyj sollte sein Blatt nicht überreizen
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj geht ein hohes Risiko ein, mahnt De Telegraaf:
„Selenskyj muss aufpassen, dass er sein Blatt nicht überreizt. Die Forderung nach F-16-Kampfjets sorgte bereits für Irritation bei einigen Nato-Partnern. ... Dass Selenskyj Rache will für all 'seine' Toten und dass er die Russen, die in Moskau fröhlich weiter leben, fühlen lassen will, was Krieg ist, ist menschlich. ... Er hofft, dass so die Unruhe in Russland zunimmt und die Unterstützung der Bevölkerung für Putin und dessen Krieg abnimmt. Strategisch betrachtet ist Angsteinjagen gerechtfertigt. ... Aber man muss sich auch nicht wundern, wenn Selenskyj von seinen guten Freunden hört, dass er solche Angriffe nicht zu oft ausführen sollte.“
Sie werden sich bekämpfen wie Spinnen im Glas
Die Angriffe werden Zweifel innerhalb der russischen Gesellschaft befeuern, hofft der Politologe Igor Reiterowitsch in NV:
„Viele fragen sich jetzt: Was ist eigentlich mit den besten Luftabwehrsystemen der Welt, von denen die russischen Behörden, insbesondere die Moskauer Behörden, ständig reden? ... Wenn diese Vorfälle anhalten, werden immer mehr Fragen gestellt werden. Und wir wissen sehr gut, wie gerne sie sich gegenseitig bekämpfen, wie Spinnen in einem Glas. ... Und dann kommen die Vorwürfe an die Adresse des Verteidigungsministeriums: Wo sind die riesigen Summen geblieben, die für die Armee und all die Raketen- und Luftabwehrsysteme ausgegeben werden?“
Ein dosiertes Maß an Angst hilft eher Putin
Exil-Oligarch Michail Chodorkowski befürchtet in einem von Echo übernommenen Telegram-Post, dass es vorerst zum Schulterschluss mit dem russischen Präsidenten kommt:
„Einerseits wird der Krieg zur Routine, zum vertrauten Hintergrund, andererseits dringt er immer tiefer in den Alltag ein, sät Angst und Unsicherheit über die Zukunft - erinnert Sie das an was? Das ist Putins Lieblingstrick im Vorfeld der Wahlen (2024 stehen Präsidentschaftswahlen an): das Wecken eines Bedürfnisses nach Sicherheit und Schutz in schwierigen Zeiten, wenn man die Pferde (und auch die 'bewährten Führer') nicht beim Passieren einer Furt wechselt. Allerdings darf man die Gesellschaft nicht zu sehr verschrecken, damit es nicht zu massenhafter Unzufriedenheit und Fragen an den Präsidenten kommt, danach wie es dazu kam, dass man so lebt.“
Der Krieg zerstört alles in uns
Der im Exil lebende Politologe Sergej Medwedew wurde von Facebook an einen sechs Jahre alten Post erinnert, als er noch von Moskau schwärmte. Nun reflektiert er in einem neuen Beitrag:
„Ich habe Moskau-City geliebt. ... Es hatte Potenzial: Das war das Russland, wie es hätte werden können, weil es alle Trümpfe in der Hand hatte: Leben, Arbeiten, Reichwerden. Und jetzt, sechs Jahre später, schaue ich mir - nein, nicht mit Schadenfreude, sondern mit kalter Neugier - Videos an, wie dort Sprengsätze einschlagen. ... Und es tut mir nicht leid um die City, nicht um meine naiven Gefühle von vor sechs Jahren und nicht um dieses Russland. Und ich denke darüber nach, wie der Krieg nicht nur die Ukraine umbringt, sondern auch alles in uns: Erinnerung, Freude, Schönheit, frühere Hoffnungen - und nur die kalte Neugier eines Pathologen übrig lässt.“