Nato-Bürochef: Ukraine verkleinert in die Nato?

Stian Jenssen, Büroleiter von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, soll laut der norwegischen Zeitung Verdens Gang bei einer Podiumsdiskussion vorgeschlagen haben, der Ukraine eine Nato-Mitgliedschaft anzubieten, wenn diese dafür Gebiete an Russland abtrete. Unter welchen Bedingungen Verhandlungen aufgenommen werden könnten, entscheide aber die Ukraine. Kyjiw bezeichnete die Äußerungen als inakzeptabel. Kommentatoren wägen ab.

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La Stampa (IT) /

Kriegsgebrüll in der Sackgasse

La Stampa freut sich über die neuen Töne:

„Sie scheinen darauf hinzuweisen, dass die abenteuerlichen Lobreden auf den Krieg, die von den hinteren Reihen im Westen aus verbreitet wurden, vielleicht in eine Sackgasse geraten sind, nämlich an die bittere Grenze der Tatsachen. ... Sogar ein hochrangiger Nato-Büroleiter bricht das Tabu, zerschmettert das Postulat, das der Westen Selenskyj bisher diskussionslos zugestanden hatte: Lasst uns nicht reden, sondern gewinnen! ... Stattdessen vertraut er den staunenden Schreiberlingen die Möglichkeit an, dass am Ende des Ukraine-Kriegs nicht die Vernichtung des Antichristen Putin steht, sondern ein Tauschhandel zwischen Territorium und Sicherheit. Das ist keine Farce, kein Versprecher. Es ist ein Test, wie ein Ausflug in die Vernunft ankommt.“

The Daily Telegraph (GB) /

Desinformationswelle dürfte folgen

Die russische Führung wird nun mehr denn je auf eine Spaltung des Westens hinarbeiten, ist The Daily Telegraph überzeugt:

„Meinungsumfragen in Europa zeigen eine klare Kluft zwischen jenen, die mit der ukrainischen Sache solidarisch bleiben wollen, und jenen, die eine Verhandlungslösung unterstützen. Zur zweiten Gruppe zählen vor allen Bürger, die besonders stark unter den gestiegenen Lebenshaltungskosten leiden. Diese Situation kann der Kreml zweifellos ausnutzen. ... Daher würde es kaum verwundern, wenn der Kreml seine Spionage-Operationen gegen den Westen nun verstärkt. Je mehr Geheimdienst-Erkenntnisse und Informationen der Kreml über die westliche Denkweise in der Ukraine-Frage sammeln kann, desto besser wird er in der Lage sein, Spaltung und Zwietracht zu säen.“

T24 (TR) /

Auch der Westen ist kriegsmüde geworden

Der Westen wird die Ukraine nicht für immer unterstützen können, meint T24:

„Seit dem 22. Februar 2022 haben sich die 'Hilfen' der USA allein für die Ukraine auf 113 Milliarden Dollar summiert. Vor allem für Europa gibt es neben der finanziellen Dimension noch andere Probleme, wie die Einschränkung des Energiehandels mit Russland. Das Ziel des Westens ist es jedoch, den russischen Staatschef Wladimir Putin zu stoppen, zu schwächen und, wenn möglich, zu entmachten. ... Die wirtschaftlichen Probleme und die innenpolitischen Unruhen in den westlichen Ländern werfen jedoch zunehmend die Frage auf: Wie lange wird noch Geld in die Ukraine fließen?“

444 (HU) /

Zu früh für ein Umdenken

Der Russland-Experte András Rácz sieht in 444.hu keinen Grund, wieso die Ukraine jetzt Kompromisse eingehen sollte:

„Die Einschätzungen, die die Gegenoffensive bereits als blutiges Scheitern ansehen, sind höchstwahrscheinlich unbegründet. ... Erstens ist das Ausbleiben schneller Ergebnisse nicht mit einem völligen Scheitern gleichzusetzen. ... Zweitens haben mehr als 50.000 ukrainische Soldaten noch gar nicht an den Gegenangriffsoperationen teilgenommen, und die meisten der vom Westen erhaltenen Panzer müssen erst noch eingesetzt werden. .... Drittens verstärkt die Ukraine ständig ihre Angriffe auf russische Versorgungslinien. Dies ist deshalb relevant, weil es keinen Grund dafür gäbe, wenn die Gegenoffensive bereits mit einer sicheren Niederlage geendet hätte.“

taz, die tageszeitung (DE) /

Ein fatales Signal

Die taz ist empört:

„[M]an stelle sich einmal vor, was dieses Szenario für die Ukraine – beziehungsweise das, was dann von ihr noch übrig bliebe – in der Praxis bedeutete. ... [D]er Kreml würde für seinen Angriffskrieg gegen den Nachbarn mit tausenden Toten und komplett verheerten Landstrichen auch noch belohnt. Die Ukrainer*innen, die in den besetzten Gebieten leben, würden frei Haus ans Messer geliefert. ... Davon abgesehen: Derartige Gedankenspiele, wie Land gegen 'Frieden', senden ein fatales Signal an die Ukra­iner*innen. ... Unter den Menschen geht die Angst um, die Unterstützung des Westens könnte bröckeln. Denn so kann Jenssen auch gelesen werden. Sollten sich diese Befürchtungen bewahrheiten, es wäre eine Katastrophe.“

24tv.ua (UA) /

Mitgliedschaft wird konkret vorstellbar

Der Vorschlag hat auch seine guten Seiten, meint Kolumnist Witalij Portnykow auf 24tv.ua:

„Allein die Diskussionen über einen Nato-Beitritt der Ukraine während des Krieges sind ein Segen für uns. Sie schaffen nicht nur die Chance, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt, sondern auch, dass die Ukraine bis zu diesem Sieg eine Nation bleibt und nicht nur eine Seite in den Geschichtsbüchern über den heldenhaften Kampf des ukrainischen Volkes gegen die russische Invasion. Wir brauchen kein Geschichtsbuch, sondern lebendige Menschen, die in der Lage sind, nach diesem Krieg einen real existierenden ukrainischen Staat aufzubauen.“

Liberal (GR) /

Schmerzhafter Kompromiss kein Tabu mehr

Kyjiws Ablehnung kann nicht verhindern, dass das von Jenssen vorgeschlagene Szenario nun im Raum steht, glaubt Liberal:

„Berater des ukrainischen Präsidenten gaben sofort Erklärungen ab, in denen sie die Aussage als inakzeptabel bezeichneten und erklärten, dass die Abtretung von Territorium im Austausch für die Nato eine - bewusst herbeigeführte - Niederlage der Demokratie, eine Untergrabung des Völkerrechts und ein Weiterreichen des Krieges an künftige Generationen darstelle. Die Debatte ist jedoch eröffnet worden. ... Es ist zwar nicht das erste Mal, dass ein solcher Gedanke aufkommt, doch scheint Jenssens diesbezügliche Aussage zumindest zu bestätigen, dass in den Brüsseler Nato-Korridoren ein für Kyjiw schmerzhafter Kompromiss kein Tabu mehr ist.“

Pravda (SK) /

Nicht über die Köpfe der Ukrainer hinweg

Aus Prinzip lehnt Pravda ab:

„Sollte die Ukraine verlorenes Territorium aufgeben? Für Sofa-Generäle und entfernte Beobachter scheint dies eine naheliegende Wahl zu sein. Die ukrainische Perspektive ist jedoch anders und muss verstanden werden. Wir möchten auch nicht, dass andere ohne uns über uns entscheiden. ... Da die Wahrscheinlichkeit, dass eine Seite die andere vollständig zerstört, nahezu bei Null liegt, wird es Verhandlungen geben. Der Schrecken des Krieges wird eines Tages enden. Allerdings stellt sich auch die Frage, mit welchen Karten sich die Spieler zusammensetzen. Wir können nur dann realistisch über Kompromisse nachdenken, wenn sich die Ukrainer mit einem Gebietsverlust abfänden. Ansonsten sind alle Aufrufe zur Kapitulation fehl am Platz, verächtlich und zynisch.“