Spanien: Kommt das umstrittene Amnestiegesetz durch?
In Spanien wird das Abgeordnetenhaus heute über Pedro Sánchez' Amtseinführung abstimmen. Seine PSOE will mit dem Linksbündnis Sumar eine Regierung bilden. Voraussetzung für die nötige Zustimmung der separatistischen Parteien Junts und ERC ist aber ein Amnestiegesetz, gegen das zuletzt am Sonntag Hunderttausende von Menschen protestiert hatten. Europas Presse blickt besorgt auf die Entwicklungen.
Schwächung des Rechtsstaates
Der ehemalige französische Premier Manuel Valls und der Historiker Benoît Pellistrandi zeigen sich in Le Monde beunruhigt:
„Wir Europäer sollten höchst beunruhigt darüber sein, dass ein großes Land den Weg der Schwächung des Rechtsstaates einschlägt. ... Man hätte sich gewünscht, dass die große spanische Sozialdemokratie mehr Mut und Kohärenz mit ihrer Geschichte gezeigt hätte, um der Ausgrenzung und dem Hass eine Verständigung und einen Konsens entgegenzusetzen. Wie wird Pedro Sánchez rechtfertigen können, dass er den Dialog mit der großen spanischen Partei, dem Partido Popular, ablehnt und die unangemessenen Bedingungen einer Partei akzeptiert, die national nur 1,6 Prozent und in Katalonien 11,16 Prozent der Stimmen auf sich vereint?“
Europa hat zu früh aufgeatmet
Sánchez ist zu weit gegangen, empört sich das Handelsblatt:
„Sánchez hat bereits in der Vergangenheit inhaltliche Kehrtwenden vollzogen, wenn sie ihm nützlich waren. Jetzt aber überschreitet er mehrere rote Linien und setzt die Glaubwürdigkeit seiner Partei und der Politik insgesamt aufs Spiel. Was sollen die Spanier bei der nächsten Wahl denn noch glauben, wenn je nach Ergebnis nachher alles anders ist? ... Europa hat aufgeatmet, als nach den Parlamentswahlen im vergangenen Juli in Spanien keine rechte Regierung mit Beteiligung der rechtsradikalen Vox zustande kam. Die linke Alternative aber, die von den katalanischen Separatisten abhängt, könnte dem Land womöglich größeren Schaden zufügen.“
Politisches Kalkül verschlimmert die Lage
Auch Le Temps kritisiert Sánchez:
„Nach dem Ende des Franquismus versuchte das demokratische Spanien zunächst, [die Nationalitätenfrage] mit großzügigen, manchmal extravaganten Maßnahmen zu lösen. Und dann, als das Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien 2017 als verfassungswidrig, einseitig und illegal eingestuft wurde, griff Madrid zu den Schlagstöcken. Pedro Sánchez hat recht: Spanien kann diese Angelegenheit nicht lösen, indem es die Beteiligten inhaftiert und allein der Polizei und den Gerichten das Wort erteilt. Aber indem er diese grundlegende Frage mit seinem eigenen politischen Kalkül verknüpft, macht er es nur schlimmer.“
Geheimniskrämerei verwirrt die Bürger
El Periódico de Catalunya fordert Transparenz und Rechtmäßigkeit:
„Die PSOE und ihre Mitstreiter haben diesen Schritt vereint getan, ebenso wie [die Koalitionspartner] Junts oder Sumar und Esquerra. ... Aber sie alle haben das getan, ohne das zentrale Thema dieser Vereinbarung, das Amnestiegesetz, öffentlich zu diskutieren. Diese Geheimniskrämerei verwirrt Millionen von Bürgern. ... Die Kandidatur von Sánchez ist legitim, ebenso wie die Demonstrationen dagegen, während es Sache des Kongresses, der Gerichte und des Verfassungsgerichts ist, das vereinbarte Gesetz auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen. Sánchez sollte zur Kenntnis nehmen, was die Straße ihm sagt, und Feijóo sollte darauf achten, dass alles im legitimen Rahmen bleibt.“
Sánchez und Feijóo müssen aufpassen
El País warnt sowohl die Sozialisten als auch die Opposition:
„Die PSOE und ihre Partner sollten die gesellschaftliche Tragweite dieser Demonstrationen erkennen, egal wie sehr die hetzerische Rhetorik der Rechten die Diskussion verzerrt. ... Pedro Sánchez muss für alle Spanier regieren, auch die Demonstranten. ... Alberto Núñez Feijóo kündigte an, dass er die Leute so lange mobilisieren will, bis es eine Neuwahl gibt. ... In einem parlamentarischen System regiert derjenige, der mit Vereinbarungen und Zugeständnissen eine Mehrheit erreicht. Diejenigen, die das schaffen, als Rechtsbrecher zu bezeichnen, verstößt gegen die von der Verfassung von 1978 festgelegten Spielregeln.“
Chance zur Aussöhnung
Die Vereinbarung verdient eine Chance, meint The Irish Times:
„Bei dem komplexen Abkommen handelt es sich keineswegs um einem Kniefall vor katalanischen Forderungen, wie das von der nationalistischen Rechten Spaniens beklagt wird. Es hat den großen Vorteil, dass es die gewichtigsten Unabhängigkeitsbefürworter zumindest vorerst davon überzeugen konnte, wieder innerhalb der verfassungsmäßigen Grenzen zu agieren. Diese Katalanen können zu Recht behaupten, dass sie die politische Instrumentalisierung des Verfassungsgerichts durch die Partido Popular im Jahr 2010 auf einen neuen radikalen Weg zwang. Denn damals wurde ein katalanisches Autonomiestatut außer Kraft gesetzt, das 2006 vom katalanischen und spanischen Parlament sowie von den katalanischen Wählern angenommen worden war.“