Henry Kissinger: Zum Tod eines Ausnahmepolitikers
Henry Kissinger ist im Alter von 100 Jahren gestorben. 1938 vor den Nazis in die USA geflohen, war er von 1969 bis 1977 Außenminister und Sicherheitsberater für die Präsidenten Nixon und Ford. 1973 erhielt er den Friedensnobelpreis für seinen Einsatz zur Beendigung des Vietnamkrieges. Auch seine Entspannungspolitik im Kalten Krieg wurde geschätzt. Andererseits unterstützte er unter anderem den Militärputsch in Chile. Nachrufe spiegeln die Kontroverse um seine Figur.
Eine Säule der bisherigen Weltordnung bricht weg
Neatkarīgā fragt sich, wer nun die Weltordnung prägen wird:
„Kissinger war einer der einflussreichsten Politiker, Denker, Strategen und Taktiker an den Wendepunkten der Weltgeschichte. Gerade bei der Beendigung der Kubakrise und der Verhinderung einer globalen Atomkatastrophe war seine Rolle am größten. Nun wieder ist es eine sehr angespannte Zeit auf der Welt. ... Gibt es in unserer Zeit einen solchen 'schlauen Fuchs' wie Kissinger? Wird es einen neuen Kissinger geben, wenn Donald Trump, der die Ukraine zumindest verbal nicht unterstützen will, zum zweiten Mal an die Macht kommt? Wie wird die Zukunft des Aggressors Russland aussehen und wie wird der Krieg enden?... Wir wissen nur, dass Henry Kissinger, eine der Säulen der bisherigen Weltordnung, tot ist.“
Brillant, unmoralisch und zynisch
El País findet Kissingers Erbe fragwürdig:
„Kissingers Einfluss auf die Weltordnung ist tief und umstritten. Allgemeine Anerkennung fanden seine Erfahrung und sein Intellekt, aber er galt auch als unmoralisch und zynisch aufgrund seiner Rolle im Vietnamkrieg, bei der Bombardierung Kambodschas oder der Förderung von Militärputschen in Lateinamerika, insbesondere in Chile. ... 1973, als Pinochet die demokratische Regierung von Salvador Allende blutig beendete, wurde Kissinger mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. ... Die Zweideutigkeit seines Vermächtnisses ist offensichtlich. ... Er wurde von seinen größten Kritikern und natürlich von einigen Tyrannen gelobt, wie Putin oder Xi Jinping, die er beraten hatte. Ein schwacher Trost für die anonymen Opfer vieler der von ihm geförderten Politiken.“
Verantwortlich für viel Leid
Murat Yetkin schlägt auf seinem Blog Yetkin Report in die gleiche Kerbe:
„Kissinger war das lebende Symbol der 'alten' neuen Weltordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurde. Er war an fast allen wichtigen internationalen Entwicklungen beteiligt, vor allem im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, und an dem Blutvergießen und dem menschlichen Leid, das jenen schicken Friedenszeremonien vorausging. Manche würden ihn gerne als Falken im Gewand einer Taube bezeichnen, aber ich glaube, es ging ihm nicht einmal darum, sich wie eine Taube zu zeigen; er war immer ein Falke mit einem trügerischen Lächeln im Gesicht. Er ist schwerwiegend mitverantwortlich für die Probleme, denen die Welt und wir in der Türkei heute gegenüberstehen.“
Unvollkommen, aber Staatsmann
Echo24 verteidigt den Verstorbenen:
„Er war der letzte einer Reihe von Staatsmännern, die den Ehrgeiz hatten, die Geschichte zu prägen. Anders als die heutigen Außenpolitiker, die wie Feuerwehrleute von einer Krise zur nächsten rennen, hatte Kissinger eine klare Vision. Damit reihte er sich in eine Reihe von Machern wie Fürst Metternich oder Otto von Bismarck ein. Schließlich hat er beide studiert und bewundert. ... Kissinger verstand, dass er oft die zweitschlechteste Option wählen musste. ... Das konnte bedeuten, unangenehme Kompromisse zu schließen. Es gibt Dinge, für die man ihn kritisieren kann. Aber es stimmt einfach nicht, dass er ein Monster war. Eher der letzte, wenn auch unvollkommene Staatsmann.“
Verdienstvolle letzte Reise nach China
Die offene China-Politik, der Kissinger vom Beginn der 1970er Jahre und bis zum Schluss treu blieb, lobt Corriere della Sera:
„Noch im Juli dieses Jahres unternahm Kissinger eine erstaunliche Reise nach Peking: Der Hundertjährige setzte seinen ganzen Einfluss ein, um den Dialog zwischen Amerika und China wieder einzufädeln, der nach den Vorfällen mit Nancy Pelosi in Taiwan und den Spionageballons gefährdet schien. Wenn das jüngste Gipfeltreffen zwischen Joe Biden und Xi Jinping in San Francisco eine Pause in der Eskalation der Spannungen markierte, dann ist dies vielleicht auch ein wenig Verdienst der Reise Kissingers, des 'elder statesman', den die Chinesen immer respektiert haben.“
Ohne Wunschdenken
Nach Ansicht der regierungsnahen Magyar Nemzet fehlt unideologischer Realismus in der heutigen Politik:
„Mit Kissingers Tod ist zum großen Schaden der Welt auch ein großes Stück des realistischen Amerikas verschwunden. Eines, das nicht den Trugbildern der Idealisten hinterherlief und das zwar hart gegen den Feind vorging, aber diejenigen, die mit ihm nicht einverstanden waren, nicht in die Korrektionsanstalten schicken wollte. Der Kontrast zu heute könnte nicht größer sein. ... Kissinger war kein Heiliger, er machte Fehler und beging sogar Verbrechen, er wurde einer der umstrittenen Friedensnobelpreisträger. Aber bis zum letzten Tag war er ohne ideologisches Wunschdenken in der Weltpolitik unterwegs.“