Russland: Kriegsgegner fordert Putin heraus
Der ehemalige Dumaabgeordnete Boris Nadeschdin will sich als Kandidat für die Präsidentschaftswahlen in Russland aufstellen lassen. Eigenen Angaben zufolge erreichte er über 200.000 Unterstützer-Unterschriften, 105.000 werden von der Wahlkommission gefordert. Nadeschdin kritisiert Putin und den Krieg gegen die Ukraine scharf. Die Frage, ob er schließlich zur Wahl zugelassen wird und welche Folgen das haben könnte, beschäftigt Europas Presse.
Legitimität des Machthabers untergraben
Der im Exil lebende russische Oppositionspolitiker Maxim Katz bewundert bei Tvnet den Mut der Menschen, die öffentlich unterschreiben:
„Das ist ein sehr ernster politischer Akt. Auf jede Person, die unterschreibt, kommen mindestens 100, die genauso denken, aber nicht gegangen sind. ... Es geht nicht darum, dass er [Nadeschdin] Präsident Russlands wird. Es geht darum, Putins Legitimität zu untergraben. ... Eine andere Person, wer auch immer, wird Russland nicht so regieren können, wie Putin es jetzt tut, weil sie nicht die Kontrolle über alle Instrumente haben wird. Wenn sie also sagt: 'Lasst uns angreifen', bekommt sie zur Antwort: 'Fahr zur Hölle, wir werden keinen Angriff starten.' ... Und in Russland wird niemand ohne breite öffentliche Unterstützung länger als ein oder zwei Jahre an der Macht bleiben.“
Ein Insider des Apparats geht seinen Weg
The New Times fragt sich, ob Nadeschdins Beteiligung an der Wahl dem Kreml nützen könnte oder ihm gefährlich würde:
„Der Kreml kann Nadeschdin als Echolot benutzen, um zu messen, wie viele Menschen es wagen, ihre Antiputin- und Antikriegshaltung offen zu demonstrieren. Er könnte ihn benutzen, um der Minderheit zu zeigen, dass sie immer noch eine Minderheit ist, indem man Nadeschdin ein Wahlergebnis von ein bis zwei Prozent erzielen lässt. Aber wenn es so läuft wie jetzt, bekommt er dann nicht mehr? ... Es stellt sich heraus, dass man durchaus etwas erreichen kann, wenn man nicht zurückschreckt; wenn man das zwielichtige und verlogene Innenleben der Staatsmacht so kennt wie Nadeschdin, der selbst durch deren Flure ging; wenn man die dortigen Regeln und die Verfassung beachtet.“
Rehabilitation der russischen Gesellschaft
Politologe Abbas Galliamow betont auf Facebook den sozialen Wert derartiger Widerstandshandlungen:
„Die protestierenden Ehefrauen der Mobilisierten, die Baschkiren, die im entlegenen Bajmak rebellierten, die Menschen, die zum Unterschreiben für Nadeschdin Schlange stehen und jene, die für [Jekaterina] Dunzowas [neue oppositionelle] Partei Regionalgruppen gründen - sie alle zerstören den Mythos vom Volk, das den Krieg und Putin unterstützt. Man kann sich kaum etwas Bedeutsameres vorstellen als diese einfachen Schritte. Die Menschen, die sie gehen, erschaffen buchstäblich die Gesellschaft neu, sie stellen ihr Nervensystem wieder her.“
Schlange stehen gegen den Krieg
Republic-Chefredakteur Dmitri Kolesew meint in einem von Echo übernommenen Telegram-Post, dass Nadeschdin wegen seines Zulaufs vom Kreml nicht zugelassen wird:
„Es wurde deutlich, dass es noch oppositionell gesinnte Menschen im Land gibt. Und da Boris Nadeschdin sich als Antikriegskandidat positioniert, kann man sagen, dass dies eine Art legale Aktion gegen den Krieg war. Die Menschen haben Freude über kollektives Handeln gespürt, sie wurden aufgemuntert, sie hatten zumindest das Gefühl, etwas getan zu haben. ... Ich halte es für unwahrscheinlich, dass Nadeschdins Name letzlich auf dem Stimmzettel stehen wird. Wenn schon die Unterschriftensammlung für einen Kandidaten die Opposition belebt und die Menschen inspiriert, was wäre dann erst im Wahlkampf?“
Zulauf könnte ihm gefährlich werden
Gazeta Wyborcza glaubt nicht an eine faire Chance für Nadeschdin:
„Boris Nadeschdin, ein 60-jähriger liberaler Politiker mit beträchtlichem Erfahrungsschatz und einem bekannten Namen, ist noch nicht aus den Vorwahlen ausgeschieden. ... Es läuft gut für ihn, denn bereits 80.000 [inzwischen 100.000] Landsleute haben ihm ihr Vertrauen geschenkt, und weitere stehen Schlange, um zu unterschreiben. ... Nadeschdin spricht sich entschieden gegen Putins Krieg aus und verkündet, dass 'es notwendig ist, eine neue Regierung zu wählen, um diese Geschichte mit der Ukraine zu beenden'. Er selbst ist jedoch in Putins Hand, der ihn jederzeit unter dem einen oder anderen formalen Vorwand daran hindern kann, sich zur Wahl zu stellen.“
Unzufriedenheit unter der Oberfläche
In absehbarer Zeit wird sich die russische Bevölkerung nicht gegen Putin auflehnen, ist Kaleva überzeugt:
„Die Kriegsmüdigkeit spiegelt sich in den russischen sozialen Medien wider, wo der angekündigte Sieg und die Machtübernahme in Kyjiw in den Hintergrund getreten sind und durch Trauerbekundungen über die wachsende Zahl der getöteten russischen Soldaten ersetzt wurden. Wird die Unzufriedenheit irgendwann in Moskau, St. Petersburg oder sogar in den Regionen der nationalen Minderheiten, wo es bereits erste Unruhen gab, heftig hervorbrechen? Das ist weiterhin unwahrscheinlich. Der Gewaltapparat scheint das Land fest im Griff zu haben, und Putin verfügt noch immer, auch dank des Propagandaapparats, über eine große Anhängerschaft.“