EGMR erhebt Klimaschutz zum Menschenrecht: Und nun?

Der Mensch hat ein Recht auf Klimaschutz. Das stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am Dienstag fest, indem er die Schweiz dafür verurteilte, durch unzureichende Klimapolitik das Recht auf Schutz vor negativen Umweltveränderungen verletzt zu haben. Geklagt hatte der Schweizer Verein Klimaseniorinnen. Kommentatoren ordnen ein und diskutieren die möglichen Folgen.

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Kauppalehti (FI) /

Weitere Prozesse dürften folgen

Dieses Urteil wird weitere nationale und europäische Klagen nach sich ziehen, ist Kauppalehti überzeugt:

„Das jüngste EGMR-Urteil könnte zu einem neuen Klimagerichtsverfahren in Finnland führen, bei dem die Klimapolitik der Regierung auf den Prüfstand gestellt wird. Unternehmen und Gemeinden wären davon nicht betroffen, da nur der Staat an das Klimagesetz gebunden ist. Sollte die Entscheidung des Gerichts die Regierung jedoch zu weiteren Maßnahmen verpflichten, hätte dies auch Auswirkungen auf das unternehmerische Umfeld. … Experten sind überzeugt, dass es weitere Prozesse geben wird, sowohl in Finnland als auch in Europa.“

De Tijd (BE) /

Keine Einmischung in die Politik

Die Kritik, die Richter hätten ihre Zuständigkeit überschritten, hat für De Tijd keine Grundlage:

„Sie wenden nur die Rechtsregeln und Vorschriften an, die in den internationalen Klimaverträgen und in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgelegt sind. Das sind zwei Regelpakete, die auf Initiative von politischen Gesetzgebern und als Ergebnis eines demokratischen Entscheidungsprozesses zustande kamen. Der Gerichtshof sagt lediglich, dass die Schweiz in der Klimapolitik tun muss, wozu sie sich verpflichtet hat. Die Politik steht überhaupt nicht im Abseits. Und sie hat das letzte Wort. Sie kann die rechtlichen Bestimmungen ändern, wenn sie feststellt, dass sie nicht funktionieren.“

La Tribune de Genève (CH) /

Mutiges und vorbildliches Urteil

La Tribune de Genève ist vollen Lobes:

„Die Entscheidung des EGMR ist vorbildlich - zu einem Zeitpunkt, an dem immer mehr Staaten aus Angst vor einem Erstarken des Populismus und der extremen Rechten bei der nächsten Europawahl ihre Klimaziele aufschieben oder aufweichen. … Viele wollen keinen 'bestrafenden Umweltschutz' mehr und schwören allein auf 'Anreize'. Jüngst haben wir angesichts der Wut der Bauern erneut festgestellt, dass der Kampf für eine bessere Umwelt zu einer Bürde geworden ist, die keiner mehr tragen will. Die 17 Straßburger Richter haben zudem etwas Offensichtliches in Erinnerung gerufen: Diese Abschwächung der Klimapolitik läuft unseren Grundrechten zuwider. Ihre Botschaft ist mutig. Die Justiz schert sich weder um politische Verrenkungen noch um Wählerjagd.“

De Standaard (BE) /

Pyrrhussieg für Aktivisten

De Standaard befürchtet nachteilige Folgen:

„Eine erste Folge dieser Entscheidung kann sein, dass Staaten angreifbarer werden, wenn sie ehrgeizigere Ziele verfolgen. Je ehrgeiziger die Ziele gesetzt werden, umso größer ist die Gefahr, dass sie nicht erreicht werden, und damit das Risiko einer Verurteilung. Eine zweite Folge ist, dass die Basis für Klimamaßnahmen abnehmen kann. Wenn Richter eine Mehrheit der Bevölkerung in ihre Schranken weisen, zwingen sie die Regierung faktisch zu politischen Selbstmordaktionen. Denn Maßnahmen durchzudrücken, die keine Mehrheit haben, wird bei Wahlen meistens bestraft.“

Blick (CH) /

Lieber Klima-Politik als Klima-Justiz

Auch Blick hält das Urteil für möglicherweise kontraproduktiv:

„Der Menschenrechtsgerichtshof ist da, um einzelnen Bürgerinnen und Bürgern zu ihrem Recht zu verhelfen, wenn diesen im eigenen Land individuell Unrecht widerfährt. Aber dieses Urteil hat eine neue Dimension. Es verlangt quasi, dass die Schweiz ihre Umweltpolitik den Bedürfnissen der klagenden Seniorinnen anzupassen hat. ... Die Fronten in der Klimapolitik dürften sich noch mehr verhärten. ... Die Schweiz ist noch lange nicht da, wo sie klimapolitisch sein sollte. Aber wir wollen demokratisch um die richtigen Massnahmen ringen. Wir wollen eine wirksame Klima-Politik, keine Klima-Justiz.“

The Times (GB) /

Straßburg ist hier nicht zuständig

Der EGMR überschreitet seine Befugnisse und dürfte außerdem eine Klagewelle auslösen, schimpft The Times:

„Das ist spektakuläre justizielle Übergriffigkeit. Das Gericht mischt sich hier direkt in demokratische Politik ein und entscheidet über politische Fragen, die besser den Regierungen und Politikern überlassen werden sollten, die ihren Wählern gegenüber verpflichtet sind. Heute Klimawandel - worauf weitet das Gericht dann seinen Zuständigkeitsbereich morgen aus? Vielleicht sollten diejenigen unter uns, die der Meinung sind, dass wir in ein Kriegszeitalter eintreten, Klage in Straßburg einreichen und das Gericht um Unterstützung dabei bitten, unsere Regierungen dazu zu zwingen, mehr für Verteidigung und die Abschreckung Russlands auszugeben, weil wir unser Recht auf Leben bedroht sehen?“

Avvenire (IT) /

Historischer Präzedenzfall

Das Signal könnte weit über Europa hinaus wirken, hofft Avvenire:

„Das Urteil, mit dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), ein Organ des 46 Staaten zählenden Europarats, zum ersten Mal der Klage einer Gruppe von Bürgern gegen das Versagen ihrer Regierung bei der Bekämpfung des Klimawandels stattgegeben hat, wird in die Geschichte eingehen. ... Das Straßburger Urteil ist auch ein Präzedenzfall für andere internationale Gerichtshöfe, da beim Internationalen Gerichtshof und beim Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte weitere Fälle anhängig sind.“

Aargauer Zeitung (CH) /

Einfluss auf die Politik fraglich

Das Urteil ist ein Fanal, meint die Aargauer Zeitung:

„Nicht nur für die Schweiz, sondern weltweit. Erstmals erhebt ein internationales Gericht den Klimaschutz zum Menschenrecht. Wer diesen Entscheid als politisch abtut oder die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Schweiz infrage stellt, entwertet letztlich das gesamte Justizsystem und die Menschenrechte. Fanale haben aber auch die Eigenschaft, dass sie selber wirkungslos sind. Der Prozess der Klimaseniorinnen war ein professionell inszeniertes Medienspektakel, das von Anfang an auf grosse Symbolik setzte. Nur aufgrund des Urteils wird die Schweiz kein Jota an ihrer Klimagesetzgebung ändern.“

tagesschau.de (DE) /

Künftige Generationen werden dankbar sein

Das Urteil wird Folgen haben, meint tageschau.de:

„Zwar kann der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht selbst Gerichtsvollzieher in den jeweiligen Ländern losschicken, um die eigenen Urteile vollstrecken zu lassen. ... Aber er hat in der Vergangenheit angesichts renitenter Staaten wie Russland oder der Türkei über die Jahre eine Taktik der zermürbenden Höflichkeit entwickelt. Immer wieder werden die Staaten daran erinnert, dass sie noch ein Urteil umsetzen müssen. Ihnen droht ein deutlicher Verlust an Ansehen, wenn sie Menschenrechte nicht beachten. Sodass auch beim Klimaschutz damit zu rechnen ist, dass die Regierungen der Mitgliedsländer doch irgendwie gehorchen werden. Gut möglich, dass kommende Generationen dem EGMR noch richtig dankbar sein werden.“

Politiken (DK) /

Der Mensch hat das Recht zu überleben

Politiken stimmt dem EGMR zu:

„Den Klimaschutz zu einem Teil der Menschenrechte zu machen, mag extrem erscheinen, ist aber im Grunde nur logisch. Denn das grundlegendste Menschenrecht ist das Recht auf Leben, und dazu gehört natürlich auch das Recht, in einem Klima zu leben, das nicht tödlich ist. ... Ein internationales Gericht hat nun den Grundsatz aufgestellt, dass Menschen einen Rechtsanspruch auf Klimaschutzmaßnahmen ihres Staates haben. Die Begrenzung der Emissionen ist nicht nur eine Verpflichtung der Staaten untereinander, sondern auch ein Rechtsanspruch der Bürgerinnen und Bürger darauf.“

Sydsvenskan (SE) /

Politische Fragen gehören nicht vor Gericht

Zwei andere Umweltklagen wies der EGMR aus juristischen Gründen zurück. Portugiesen hatten 33 Staaten verklagt, nicht genug gegen Klimawandel zu tun. Ein französischer Ex-Bürgermeister warf Paris vor, seine Stadt nicht vor Überflutung zu schützen. Sydsvenskan meint dazu:

„Die beiden abgewiesenen Fälle verdeutlichen, wie gefährlich es ist, Staaten oder Behörden wegen vermeintlicher Rechtsverletzungen zu verklagen. ... Die Klagen bewegen sich im Grenzbereich zwischen Recht und Politik und politische Fragen sollten nicht vor Gericht entschieden werden. Sie gehören in politische Versammlungen, in offene Debatten und in demokratische Wahlen, in denen politische Verantwortung gefordert wird. Auch wichtige politische Themen drohen an Fokus und Unterstützung zu verlieren, wenn Gerichte Fälle aus rechtlichen Gründen ablehnen, ohne zur Sache Stellung zu beziehen.“