Nord-Stream-Anschläge: Neue Details und Vorwürfe

Die deutsche Generalbundesanwaltschaft hat im Juni einen Haftbefehl gegen einen der drei verdächtigen Ukrainer wegen des Sprengstoffanschlags auf die Nord-Stream-Pipeline an die polnischen Behörden übermittelt. Laut Wall Street Journal soll Präsident Selenskyj den Anschlag zunächst genehmigt haben. Und Ex-BND-Chef Hanning vermutet, dass auch Warschau an der Planung beteiligt war. Muss das Ereignis neu bewertet werden?

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Frankfurter Allgemeine Zeitung (DE) /

Ein legitimes militärisches Ziel

Aus Sicht der Frankfurter Allgemeine Zeitung wäre ein von Kyjiw beauftragter Angriff kein Skandal:

„Nehmen wir an, eine Nord-Stream-2-Leitung verliefe im Kursker Gebiet: Deren Zerstörung durch ukrainische Truppen hätte kaum jemanden aufgeregt ... . So gänzlich anders ist die Lage nach den jüngsten Berichten mit Blick auf die in der Ostsee gesprengte Gasleitung nicht. Im Eigentum eines russischen Staatskonzerns stehend und auch zum Moskauer Angriffskrieg gegen die Ukraine beitragend, lässt sie sich auch auf hoher See als legitimes Ziel betrachten. Zur Zeit ihrer Sprengung diente sie im Übrigen auch nicht mehr der Energieversorgung Deutschlands. Sollte der ukrainische Präsident ... sie in Auftrag gegeben haben, so kann man darin auch eine völkerrechtlich zulässige Verteidigungshandlung sehen.“

Radio Kommersant FM (RU) /

Die reinsten James Bonds am Werk

Radio Kommersant FM verweist darauf, dass die Version einer unter Alkoholeinfluss entstandenen Idee eines waghalsigen ukrainischen Sabotageaktes auch Russlands Darstellung des Anschlags in Frage stellt:

„Es sei daran erinnert, dass die russische Seite lange darauf bestanden hat, dass die Pipelines von den USA oder ihren geheimnisumwitterten Verbündeten gesprengt wurden. Die Ukraine sei zu so etwas einfach nicht fähig – denn das war eher ein großer militärischer Sabotageakt. Und hier geht es jetzt um irgendeine Yacht und ein paar Taucher ... Eines kann man mit großer Sicherheit sagen: Diese Untersuchung wird nicht die letzte sein. Es wäre eine Sünde, sich ein so buntes Thema im Geiste von James Bond entgehen zu lassen.“

Ukrajinska Prawda (UA) /

Soll Kyjiw gezielt desavouiert werden?

Die Ukraine bleibt dabei, dass Russland den Anschlag verübt habe. Ukrajinska Prawda findet es zumindest verdächtig, dass neue Details gerade jetzt veröffentlicht wurden:

„Die Geschichte mit den Nord-Stream-Pipelines entwickelt sich weiterhin nach dem Szenario eines Thrillers – mit unerwarteten Wendungen und unvorhersehbaren Folgen. ... Es gibt immer mehr Anzeichen für eine 'ukrainische' Spur hinter den Explosionen, die Kreml-Investitionen in Milliardenhöhe begraben hatten. ... Zugleich ist es keineswegs ausgeschlossen, dass die Veröffentlichung neuer 'sensationeller Details' zur Sabotage der Nord-Stream-Pipeline ausgerechnet jetzt, während der Offensive der ukrainischen Streitkräfte in der russischen Region Kursk, nicht einfach nur ein Zufall ist.“

Frankfurter Allgemeine Zeitung (DE) /

Nicht die wahre Bedrohung vergessen

Sollten tatsächlich ukrainische Taucher die Gasleitung gesprengt haben, drohen Verwerfungen zwischen Berlin und Kyjiw, schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung:

„Denn ganz gleich, für wie politisch fatal man den Bau von Nord Stream hält: Ein Sprengstoffanschlag muss verfolgt werden. Politische Erwägungen dürfen dabei keine Rolle spielen. ... Der Kreml würde darob lauthals frohlocken. Doch selbst in einem solchen Szenario dürfte nicht vergessen werden, von wem die Bedrohung für Frieden und Freiheit in Europa ausgeht - und dass das russische Regime nur durch gemeinsames Handeln gestoppt werden kann.“

The Times (GB) /

Keine voreiligen Schlüsse ziehen

Bis der Verdächtige gefasst und die Fakten vor Gericht geprüft sind, bleiben viele Fragen des Vorfalls weiterhin unbeantwortet, so The Times:

„Die erste und wichtigste Frage lautet: War dies wirklich ein ukrainischer Handstreich? ... Zweitens: Wenn dies tatsächlich ein ukrainisches Komplott war, wie viel wusste Kyjiw im Voraus davon? Ein Angriff auf eine so wichtige Energieleitung knapp außerhalb der Nato-Gewässer, die nicht nur dem russischen Staat, sondern auch einem Konsortium europäischer Firmen gehört, ist schwerwiegend und könnte mehrere westliche Unterstützer der Ukraine verärgern, nicht zuletzt Deutschland. ... Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Welt noch eine ganze Weile auf endgültige Antworten zu diesen beiden Fragen warten muss.“