Kursk-Offensive: Steigt der Druck auf den Kreml?
In der Region Kursk ist die Ukraine nach eigenen Angaben über 30 Kilometer auf russisches Gebiet vorgerückt und hat drei wichtige Brücken zerstört oder beschädigt. Mit der Offensive solle der Druck auf Russland erhöht und eine Pufferzone geschaffen werden, erklärte Präsident Selenskyj. Europas Medien fragen sich, ob die Strategie aufgeht.
Kein Ende des Krieges in Sicht
Helsingin Sanomat erwartet einen russischen Gegenschlag:
„Der Überraschungseffekt des ukrainischen Angriffs auf das russische Territorium in Kursk vor ein paar Wochen beginnt zu verblassen. Doch die Ukraine setzt sowohl ihren Vormarsch auf russisches Gebiet als auch andere Überraschungen fort. Am Dienstagabend griff sie Moskau mit Drohnen an und erinnerte die Moskauer daran, dass sie in dem Krieg nicht nur Zuschauer sind. … Sowohl in Kyjiw als auch im Kreml steht immer mehr auf dem Spiel. ... Das langsame Tempo der Offensive gibt dem Kreml die Möglichkeit, Kräfte für einen Gegenschlag zu sammeln. Für die Ukrainer hat der Erfolg in Kursk seltene Momente der Hoffnung gebracht, aber ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht.“
Duldender Gehorsam
Die russischen Bürger zeigen sich apathisch, beobachtet Telegram:
„Das Vordringen der Ukraine in die Region Kursk hat einmal mehr die große Schwäche der russischen Gesellschaft bestätigt, die völlig apolitisch ist. Auch die Besetzung von Teilen von 'Mutter Russland', die Evakuierung der Zivilbevölkerung, die Bilder gefangener bartloser junger Männer erregten in der breiten russischen Öffentlichkeit keine besondere Aufmerksamkeit. Es gab keinerlei Äußerungen von Unwillen seitens russischer Zivilisten gegenüber den 'besetzenden' ukrainischen Streitkräften. ... Russische Bürger fühlen sich nicht als Teilnehmer an politischen Prozessen, sondern hören gehorsam auf die Interpretationen der Staatsmedien.“
Früher oder später kommt die Reaktion
De Standaard fragt sich, ob die Lage nur die Ruhe vor dem Sturm ist:
„Es ist naiv zu denken, dass Russland die ukrainischen Truppen rund um Kursk einfach so weitermachen lässt. Wie zu Beginn des Krieges, als die Ukraine sich stärker widersetzt hatte, als Putin gedacht hatte, braucht der russische Präsident jetzt vielleicht auch Zeit, um sich von dem Überraschungsangriff zu erholen, seine Truppen zu reorganisieren und die Strategie zu ändern. Aber dass er das tun wird, ist ziemlich sicher. Die Frage wird dann sein: Was hat die Ukraine mit dem mutigen Angriff gewonnen?“
Putin könnte in Erklärungsnot geraten
Die Ereignisse in Kursk könnten auch die innenpolitischen Probleme Putins verschärfen, schreibt Público:
„Die größte Sorge wird die Reaktion der Familien der Soldaten sein, die ein Jahr lang ihren Wehrdienst ableisten müssen. Putin hat immer garantiert - auch wenn er sich nicht immer daran gehalten hat -, dass diese jungen Männer nicht an der Invasion der Ukraine beteiligt sein werden. Viele der in der Region Kursk Dienst leistenden Soldaten sind jedoch junge Wehrpflichtige, und der Einmarsch weckt Zweifel an den Truppen, die der Kreml mobilisieren muss.“
Mobilmachung wäre eine Katastrophe
24tv.ua analysiert, was Moskau trotz eines Mangels an Soldaten von der Mobilmachung abhält:
„Putin versteht nur zu gut den Unterschied zwischen einem Soldaten, der die Ukrainer freiwillig und gegen Bezahlung tötet und das Risiko seines eigenen Tods einkalkuliert hat, und jemandem, der zum Kampf gezwungen wird. Ein Soldat, der in den Krieg gezwungen wird, wird sich bei der ersten Gelegenheit ergeben. Das exemplarische Beispiel der letzten Tage sind die russischen Grundwehrdienstleistenden aus der Region Kursk. Nach einer Woche Kämpfe gibt es bereits fast 2.000 Gefangene! Stellen Sie sich eine Zwangsmobilisierung von 300.000 Russen vor. Wenn sich zehn Prozent von ihnen ergeben würden, was wäre das für ein Austausch-Fonds, was für eine Katastrophe für das Regime!“
Veränderung liegt in der Luft
Die ausbleibende Reaktion des Kremls ist für Spotmedia vielsagend:
„Die Berichte ukrainischer und westlicher Journalisten in Russland, die gepanzerten ukrainischen Fahrzeuge, die ungehindert über die Grenze rollen und Einwohner, die sich mehr von den Besatzern als vom Kreml-Militär beschützt fühlen, zeichnen ein Bild, das vor zweieinhalb Jahren nur schwer vorstellbar war. ... Die augenfällige Schwäche Russlands hat bereits Auswirkungen auf das politische Regime in Moskau und die Wellen, die [der belarusische Präsident] Lukaschenka inzwischen schlägt, zeigt, dass sich die Lage zuspitzt. Es ist unmöglich, vorherzusagen, wann sich in Russland ein großer Wandel vollzieht, doch er liegt in der Luft und könnte jeden Moment eintreten.“
Ein Angriff aufs eigene Land - ja und?
Exil-Politiker Leonid Gosman staunt in Nowaja Gaseta Ewropa über die Teilnahmslosigkeit, mit der man in Russland auf die Lage reagiert:
„Sehen Sie viele Anzeigen 'Nehme kostenlos eine Familie aus der Region Kursk auf'? Und der Strom an Freiwilligen, die ihren Heimatboden verteidigen wollen, wo ist er? Dass er zugenommen hat, wissen wir nur aus dem Mund Putins - welch verlässliche Quelle. Das Fernsehen kann nicht einmal eine einzige Warteschlange vor einer Einberufungsstelle zeigen, wo jemand sagt, dass er früher dachte, dass man es auch ohne ihn schaffen würde, aber jetzt gehe er an die Front. Wenn das fehlt, hat man auch kein Land. Die Staatsmacht, die wegen Kursk keinen 'Heiligen Krieg' ausruft, mag ihre eigenen Gründe haben. Das Wesentliche ist, dass die Menschen nichts dabei empfinden.“