Brauchte die Ukraine einen neuen Außenminister?

Bei einem umfassenden Umbau der ukrainischen Regierung wird rund die Hälfte der Ministerposten neu besetzt. Außenminister ist jetzt Andrij Sybiha, der seinem Vorgänger Dmytro Kuleba bislang als Stellvertreter diente. Europas Presse beobachtet – teils mit Verständnis, teils mit Sorge – eine Konzentration der Macht in dem Land, das sich seit zweieinhalb Jahren gegen den russischen Großangriff zur Wehr setzt.

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Jutarnji list (HR) /

Kriegsbedingte Zentralisierung

Die aus dem Krieg resultierende Zentralisierung der Macht ist nun abgeschlossen, analysiert Jutarnji list:

„Ist das eine Krise, wie von russischen Regimemedien berichtet wird? Unter anderen Umständen wäre dem wohl so, doch hier kann man eher sagen, dass nach zweieinhalb Jahren Krieg damit die 'Zentralisierung' der Macht in den Händen von Präsident Selenskyj und seinem Büro unter Kontrolle des mächtigen Andria Jermak, des wahren 'zweiten Mannes der Ukraine', abgeschlossen ist. ... Sinn der Regierungsumbildung ist, dass die Regierung nun verlängerter Arm des Präsidialamtes ist, da Personen aus dem engsten Kreis des Präsidenten Funktionen übernommen haben.“

The Guardian (GB) /

Machtzirkel darf nicht zu klein werden

Der Kreis um Selenskyj wird enger, beobachtet The Guardian:

„Durch Krisen werden Führungspersönlichkeiten in den Vordergrund gerückt, aber vielleicht hätte keine andere Person die nationale und internationale Öffentlichkeit so aufrütteln können wie er. Eine gewisse Machtkonzentration ist in Kriegszeiten unvermeidlich, aber Selenskyj scheint sich auch am wohlsten zu fühlen, wenn er alles aus dem Kern eines kleinen Teams steuert, wie er es in seiner Zeit beim Fernsehen getan hat. ... Anführer, die unter starkem Druck stehen, neigen verständlicherweise dazu, sich auf Vertraute und Verbündete zu verlassen. Aber die Menschen wollen sicher sein, dass ihr Land, das mit einer immensen, existenziellen Bedrohung konfrontiert ist, seine Talente voll ausschöpft.“

Mladá fronta dnes (CZ) /

Inkompetenz wohl nicht der Grund

Mladá fronta Dnes ist nicht erklärlich, warum Außenminister Dmytro Kuleba ausgetauscht wird:

„Angeblich fehlte ihm die Energie, die nötigen Waffen zu beschaffen. Doch wenn der neue Chefdiplomat keine Fabriken zur Produktion von Munition, Panzern, Kampfjets, Raketen, Drohnen oder Luftabwehrsystemen besitzt, wird er kaum in der Lage sein, mehr Waffen zu beschaffen als sein Vorgänger. Jeder kann über den überaus fähigen Kuleba denken, was er will, aber es ist absurd anzunehmen, dass sich die Amerikaner und anderen Verbündeten mit Kyjiw darauf geeinigt hätten, dass sie, wenn jemand anderes an seine Stelle käme, mehr Waffen in die Ukraine schicken würden. Von Kulebas Inkompetenz kann also keine Rede sein, eher handelt es sich um große Spannungen zwischen ihm und dem Präsidenten.“

Népszava (HU) /

Demokratie erhalten

In Népszava sorgt sich Autorin Mária Gál über den Abgang des Außenministers:

„Es gibt verschiedene Spekulationen, die über die wirklichen Gründe für Dmytro Kulebas Ablösung kursieren, aber keine von ihnen erklärt, warum der Präsident einen der bekanntesten und anerkanntesten Regierungsakteure der Ukraine durch einen Unbekannten ersetzt hat. ... Der Krieg erklärt vieles, aber nicht alles. Mir fallen die Worte von [Kyjiws Bürgermeister] Vitali Klitschko ein, der in einem Interview sagte: 'An einem bestimmten Punkt werden wir uns nicht mehr von Russland unterscheiden, wo alles von der Laune eines einzigen Mannes abhängt'.“

BBC News Ukraina (UA) /

Keine neuen Gesichter

Kaum jemand wird die Änderungen bemerken, meint BBC News Ukrajina:

„Es ist schwer, ein Land in der Welt zu nennen, in dem der gleichzeitige Austausch von beinahe der Hälfte der Regierungsmitglieder nicht ein Zeichen einer großen Politik-Krise wäre oder zumindest nicht zu einem politischen Erdbeben würde. Die heutige Ukraine beweist aber, dass das Unmögliche möglich ist. Und dass ein solch bedeutender Personalwechsel kaum zu grundlegenden Veränderungen im Leben des Staats führen dürfte, und dass die Mehrheit der Bevölkerung sie gar nicht merken wird. ... Ein Personentransfer innerhalb des Systems: Ob gut oder schlecht, es wurde keine einzige Person von außerhalb des bereits bestehenden Personalpools an der Staatsführung beteiligt.“

Corriere della Sera (IT) /

Zweifler unerwünscht

Selenskyj mag keinen Widerspruch, kommentiert Corriere della Sera:

„'Herbst, die Blätter fallen', freut sich Maria Sacharowa. Für die Sprecherin des Moskauer Außenministeriums sind die massiven Umbesetzungen in der ukrainischen Regierung ein Zeichen der Schwäche. ... Allerdings könnte Sacharowa sich irren. Das Entfernen von vier Ministern, zwei Unterstaatssekretären und ebenso vielen Brigadegenerälen verkürzt die Befehlskette, beschleunigt die Entscheidungsfindung und erleichtert die Kriegsanstrengungen. Präsident Wolodymyr Selenskyj stärkt seine Rolle als alleiniger Befehlshaber. Und mit ihm steht die harte Linie gegenüber Russland außer Frage. Diejenigen, die zweifeln, die versucht wären, einen Kompromiss auszuhandeln, müssen die Bühne verlassen.“

Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Normaler Verschleiß in Kriegszeiten

Die Neue Zürcher Zeitung ist nicht überrascht:

„Präsident Selenski schob nach dem russischen Überfall personelle Veränderungen hinaus, um Stabilität zu signalisieren. Aber in jeder Regierung kommt es zu Verschleisserscheinungen, unter dem Druck eines Krieges erst recht. Selenski pflegt einen ganz anderen Führungsstil als sein Gegenspieler Putin im Kreml, der aus Furcht vor Veränderungen viele seiner Getreuen bis ins hohe Alter und oft mehr als ein Jahrzehnt lang auf demselben Posten belässt.“

Walerij Pekar (UA) /

Minister haben zur Zeit nicht die Fäden in der Hand

Die Relevanz neuer Gesichter ist unter den aktuellen Umständen leider zweitrangig, erinnert Publizist Walerij Pekar auf Facebook:

„Nicht die Minister sind das Problem der Regierung. Unter ihnen gibt es viele starke und engagierte Fachleute. Das Problem der Regierung besteht darin, dass sie nicht das Zentrum der Entscheidungsfindung ist, wie es die Verfassung verlangt. Solange wichtige Entscheidungen anderswo getroffen werden, spielt die Regierung nur eine zweitrangige Rolle. Wenn ein Minister lediglich ein untergeordneter Projektmanager ist und nicht die Schlüsselperson, die gegenüber dem Parlament und dem Volk für die Entwicklung und Umsetzung der staatlichen Politik in seinem Zuständigkeitsbereich verantwortlich ist, dann spielt es keine Rolle, wie er oder sie heißt.“