Rückblick: Was überrascht an Merkels Memoiren?

Von 2005 bis 2021 lenkte sie als Bundeskanzlerin die Geschicke Deutschlands. Am Dienstag ist nun Angela Merkels Rückblick auf ihr bisheriges Leben erschienen. Am Folgetag reiben sich die ersten europäischen Kommentatoren an den Inhalten der rund 700-seitigen und in 30 Sprachen übersetzten Memoiren "Freiheit: Erinnerungen 1954 - 2021".

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Aargauer Zeitung (CH) /

Pragmatikerin in Erklärungsnot

Wenig Überraschendes liest die Aargauer Zeitung:

„Sie habe ihre Erinnerungen nicht aufgeschrieben, um sich zu rechtfertigen, betont die Altkanzlerin. Ein Hinweis, der nicht von ungefähr kommt, meinen viele Deutsche doch mittlerweile, Merkel sei ihnen eine Erklärung schuldig: Ob einstürzende Brücken, die marode Bundeswehr, Probleme bei der Integration von Flüchtlingen oder eine naive Russland-Politik: Dass Deutschland nach 16 Jahren Merkel gut dastehe, kann keiner behaupten. ... Ihre Migrationspolitik hält Merkel weiterhin für richtig oder – um es mit ihren Worten zu sagen – 'alternativlos'. Dass sie damit die AfD gross gemacht habe, findet sie nicht. ... Angela Merkel bleibt auch im Ruhestand eine Pragmatikerin der Macht.“

Onet.pl (PL) /

Katastrophale Energiepolitik

Merkels Rechtfertigungen der Nord-Stream-Pipelines erzürnen Onet.pl:

„Heute erklärt sie immer wieder, dass Polen und die Ukraine nichts gegen den Gastransit gehabt hätten, solange er durch ihr Staatsgebiet ging und sie davon profitierten. Dies ist das denkbar verkehrteste Argument. Solange der Gastransit durch Polen und die Ukraine ging, musste Russland mit ihnen rechnen. Nicht nur wirtschaftlich, sondern vor allem auch politisch! Als Russland zusammen mit Deutschland beschloss, Polen und die bedrohte (insbesondere nach 2014!) Ukraine zynisch zu umgehen, verloren diese ihren Einfluss auf Russland. Billigeres Gas war wichtiger als die Sicherheit der polnischen und ukrainischen Verbündeten. Im Ergebnis haben wir weder billiges Gas noch Sicherheit.“

Seznam Zprávy (CZ) /

Kaum noch gefragt

Für Martin Jonáš, Deutschland-Experte von Seznam Zprávy, wird es nach der Buchvorstellung wohl eher ruhig um Merkel werden:

„Insgesamt klingen die Memoiren vor allem wie ein Versuch, die bröckelnde Fassade ihres politischen Erbes zu stützen. Es leidet unter den unglücklichen Folgen der Russland- und Flüchtlingspolitik, der zunehmenden Abhängigkeit von China und der Zurückhaltung gegenüber Reformen, die die deutsche Wirtschaft für das 21. Jahrhundert gebraucht hätte. Wenn Merkel ihre Tournee zur Unterstützung ihrer Memoiren beendet hat, wird sich die ehemalige Weltpolitikerin in die Abgeschiedenheit ihrer Wohnung am Spreeufer zurückziehen. Ihren Nachfolgern gibt sie selten Ratschläge. Auch weil sie selten um Rat gefragt wird.“

La Repubblica (IT) /

Die Geschichte ihrer beider Leben

Angela Merkel ist eine wichtige Zeitzeugin des Deutschlands vor dem Mauerfall, erklärt der Historiker Timothy Garton Ash in La Repubblica:

„Angela Merkel war die erste und letzte Ostdeutsche an der Spitze des wiedervereinigten Deutschlands, der Schlüsselmacht Europas. Es mag künftige Bundeskanzler aus den Regionen geben, die einst die Deutsche Demokratische Republik (DDR) bildeten, aber keiner wird mehr von der Erfahrung geprägt sein, im [damaligen] Ostdeutschland gelebt zu haben. Dies und nicht die Enthüllungen über die wichtigen Entscheidungen, die sie als Bundeskanzlerin in 16 außergewöhnlichen Jahren getroffen hat, ist das wirklich interessante Element von Merkels Memoiren mit dem Titel Freiheit. Sie nennt es 'die Geschichte meiner beiden Leben', und der Punkt ist, wie sehr das erste Leben das zweite beeinflusst hat.“

El País (ES) /

Mit ihr gingen Maß und Mitte

El País beginnt, die ehemalige Kanzlerin zu vermissen:

„Seit ihrem Abschied rennt Europa herum wie ein kopfloses Huhn. ... Gespalten, orientierungslos, besorgt über einen russischen Angriff. ... Merkel ging in dem Wissen, dass sie ihre Freundin Ursula von der Leyen an der Spitze der Europäischen Kommission zurücklässt, deren Effektivität als Ministerin sie erkannt hatte. ... Von der Leyens Kommission steht viel weiter rechts und umwirbt die italienische Premierministerin. .... Was denkt Merkel über diesen Wandel, und kann man wirklich mit den dunkelsten Kräften des Kontinents kooperieren? Vielleicht werden wir die diskrete und so gar nicht arrogante Angela Merkel vermissen. ... Sie hat ihren Ansatz immer als 'eine Politik von Maß und Mitte' definiert. Mitte, nicht rechts außen.“

Jyllands-Posten (DK) /

Auch Mutti hatte Schwächen

Für Jyllands-Posten wird deutlich, dass sich die Zeiten nach dem Ende des Kalten Krieges deutlich geändert haben und Entscheidungen hinterfragt werden müssen:

„In der neuen Ära wurde deutlich, dass Merkels Pragmatismus zugleich ihre Schwäche war. Es wurde nicht genug über die Zukunftsfähigkeit des Wohlstands nachgedacht, es wurden nicht die notwendigen und schwierigen Entscheidungen getroffen, um das Erreichte militärisch zu verteidigen, und die Sichtweise auf die Gegner des Westens wie Wladimir Putin und Xi Jinping war oft unverzeihlich naiv. Deshalb ist es nur recht und billig, dass wir jetzt ein ehrliches Gespräch über Mutti, ihre Tugenden und Schwächen führen. Es sind die hohen Ansprüche, die Merkel an die Kanzlerschaft gestellt hat, die ihren Nachfolger Olaf Scholz wie ein substanzloses Leichtgewicht aussehen lassen.“