Syrien im Spannungsfeld der Regionalmächte
Nach dem Umsturz im lange von Russland und dem Iran gestützten Syrien ist die künftige außenpolitische Ausrichtung des Landes noch unklar. Während der Anführer der siegreichen Islamisten, Abu Muhammad al-Dschaulani, erklärte, das Land nicht in einen weiteren Krieg führen zu wollen, flog Israel breit angelegte Luftangriffe gegen militärische Einrichtungen in Syrien. Die Presse beleuchtet die verschiedenen Interessenlagen.
Netanjahu schafft Tatsachen
Für eldiario.es ist klar, was Israel mit seinem Vorgehen erreichen will:
„Eine neue regionale Ordnung, die jegliche Hoffnung der Palästinenser auf einen eigenen Staat zunichte macht und die endgültige Annexion des Westjordanlandes, die Unterwerfung des Libanon unter sein Diktat und die Ausweitung des bereits von ihm besetzten Gebiets in Syrien beinhaltet. Netanjahu will schnellstmöglich eine günstige Situation vor Ort schaffen, damit der [künftige] US-Präsident nur noch die vollendeten Tatsachen absegnen muss. ... Er rechnet damit, dass die syrischen Streitkräfte nicht in der Lage sind, ihr eigenes Territorium zu verteidigen, wie es sich ja auch bisher bewahrheitet hat. Das erlaubt ihm, so weit zu gehen, wie er will.“
Erdoğan kann seine Machtansprüche weiter ausbauen
Eine Regionalmacht dürfte sich gerade besonders freuen, meint der Politologe Nuno Severiano Teixeira in Público:
„Die Türkei profitiert am meisten von diesem Ausgang des Bürgerkriegs. ... Erstens will sie die Bildung eines kurdischen Staates im Nordosten Syriens verhindern. Zweitens will sie die Migrationsströme umkehren und einen Teil der Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei nach Syrien zurückschicken. Immer wieder versuchte sie, mit Assad zu verhandeln, der sich stets verweigerte. Bis Erdoğan die Nase voll hatte und beschloss, die inzwischen siegreiche Rebellengruppe zu unterstützen, auszubilden und zu bewaffnen. Nun ist er in einer guten Position, um seine Ziele zu erreichen und seinen Einfluss nach neo-osmanischen Vorstellungen auszuweiten.“
Was passiert mit den Kurden?
Aus Sicht von Liberal dreht sich nun vieles um die von den kurdischen Milizen YPG und SDF kontrollierten Gebiete im Nordosten des Landes:
„Der Sturz des Assad-Regimes löste in der türkischen Regierung eine Welle der Begeisterung aus, da die Türkei nun selbst die Möglichkeit hat, das syrische Territorium mit militärischen Mitteln von der Präsenz der kurdischen Miliz zu 'säubern'. Die USA sind jedoch dagegen, da sie sowohl im Kampf gegen den Islamischen Staat und für die Sicherheit Israels als auch für ihre eigene Präsenz im Nahen Osten auf die Kurden angewiesen sind. Das benachbarte Israel, das in einem feindlichen Umfeld gefangen ist, findet in den Kurden einen zuverlässigen Verbündeten.“
Assad von Moskau geopfert
Für die Ukraine bedeutet der Sturz des syrischen Präsidenten nichts Gutes, befürchtet Helsingin Sanomat:
„Jetzt scheint Russland zu versuchen, sich an die neue Situation in Syrien und im Nahen Osten anzupassen. Der Prestigeverlust ist demütigend für den Kreml, aber Syrien ist für Russland längst nicht so wichtig wie die Ukraine. Deshalb war Putin schließlich bereit, Assad zu opfern. Die Situation in Syrien wird der Ukraine vermutlich keine Erleichterung verschaffen. Vielmehr ist die Ukraine mit dem Sturz von Assad zu einer noch größeren Obsession für Putin geworden. Das sollte der Westen nicht vergessen.“
Netanjahus Plan geht auf
Die Kritik an Israels Vorgehen in Syrien zeugt für die Frankfurter Allgemeine Zeitung von wenig Weitsicht:
„Syrien befindet sich in einem Zustand der Kontroll- und Rechtlosigkeit, da ist schnelles Handeln erforderlich. Zumindest die israelischen Luftschläge gegen syrische Militäreinrichtungen sind sinnvoll. ... Nach dem 7. Oktober ist Netanjahu dafür kritisiert worden, dass er militärisch einen neuen Nahen Osten herbeiführen wollte. Im Rückblick hat er recht behalten: Der harte Schlag gegen die Hizbullah war ein entscheidender Schritt hin zum Neuanfang in Syrien und vor allem zur Schwächung der iranischen 'Achse des Widerstands', die nicht nur Israel, sondern der ganzen Region Unheil gebracht hat.“
Einsätze an mehreren Fronten
Während die Syrer den Sturz der Diktatur feiern, ist das Land bereits Ziel von Militäraktionen äußerer Mächte, die dort ihre Interessen verfolgen, konstatiert Cyprus Mail:
„Während die USA Orte bombardierten, die mit dem Islamischen Staat in Verbindung gebracht werden, nahm die Türkei kurdische Kräfte ins Visier und Israel bombardierte Einrichtungen, die vermutlich für Raketen und chemische Waffen verwendet wurden. Israel schickte auch Truppen in die Pufferzone hinter den besetzten Golanhöhen. Inzwischen sind auch Assads Unterstützer – Russland und Iran – um ihre Interessen besorgt. Der Iran erklärte, er erwarte, dass die guten Beziehungen zu Damaskus fortgesetzt würden, während aus Moskau die Botschaft kam, dass Russland auf jeden Angriff auf seine Militärbasen reagieren würde.“
Eine schwache Führung wäre Israel lieber
Expresso analysiert das militärische Eingreifen des südwestlichen Nachbarn:
„Israel jubelt, ist aber nervös, wie seine militärischen Bewegungen zeigen. Es hätte einen schwachen Assad ohne Legitimität in der Bevölkerung, selbst wenn er die Hisbollah unterstützt, einem neuen Regime vorgezogen, das von islamistischem Nationalismus geprägt und für den Druck der Bevölkerung empfänglich ist. ... Tel Aviv wollte, dass Assads begrenzte Macht erhalten bleibt, dass der Krieg weitergeht und die herrschende Macht den Süden kontrolliert, wo seine Grenzen verlaufen. Die israelische Strategie bestand immer darin, zu teilen und zu herrschen, auch wenn das Chaos in der Region bedeutete, das sich auf die ganze Welt auswirkte.“
Neue Wege für Energiepipelines
Neatkarīgā beleuchtet mögliche wirtschaftliche Auswirkungen:
„Sollte Syrien diesmal zum Frieden zurückkehren und sollten demokratische Institutionen gestärkt werden, können die Golfstaaten Syrien für den Transport ihres Öls und Gases zum Mittelmeer und damit perspektivisch nach Europa nutzen. ... Dies wird dazu beitragen, unseren Bedarf zu decken und auch der Ukraine neue alternative Beschaffungsmöglichkeiten bieten. Die Notwendigkeit der Türkei, mit dem Transit Geld zu verdienen, ist eine Garantie dafür, dass die Türkei als größtes Land der Region die Situation weiterhin beruhigen wird, indem sie zunächst in ihrem eigenen Interesse handelt, dieses Mal aber auch ein wenig in unserem.“
Jetzt sind die Vereinten Nationen gefordert
Politiken hofft auf eine tatkräftige Weltgemeinschaft:
„Man stelle sich vor, die Vereinten Nationen könnten eine führende Rolle bei der Schaffung einer Übergangsregierung spielen, die dafür sorgen könnte, dass Syrien nicht in die Hände eines extremistischen islamistischen Regimes fällt. ... Und man stelle sich vor, Assads Fall in Syrien und die Schwächung der Hisbollah im Libanon könnten Freiheit und Demokratie mit sich bringen. Das ist natürlich eine fromme – und vielleicht naive – Hoffnung, aber wenn die großen Räder der Geschichte in Bewegung sind, muss die Weltgemeinschaft versuchen, Schritt zu halten. ... Wie schön wäre es, wenn der Sturz des Diktators in Damaskus zu jenem Arabischen Frühling führen könnte, den Assad selbst 2011 brutal erstickt hat.“
Warnung für andere Diktatoren
Für Oppositionspolitiker Leonid Wolkow ist das Ende des Assad-Regimes ein großes Glück. Er schreibt auf Facebook:
„Ich verstehe überhaupt nicht dieses ganze Gestöhne darüber, dass Assad 'irgendwelche falschen' oppositionellen Kräfte besiegt haben. Und dass es noch schlechter kommen könnte. ... Natürlich wird von allein keine lichte demokratische Zukunft vom Himmel auf Syrien fallen. Natürlich steht viel Schwieriges und Unangenehmes bevor. Und es ist keine Tatsache, dass das alles gut ausgeht. Aber an sich ist der Sturz eines der blutrünstigsten Diktatoren der Gegenwart ein großes Fest und ein großes Glück. Weil es ein Beispiel für andere Diktatoren ist. Weil es eine Mahnung ist, wie instabil personalistische Regime sind.“
Ein Hoffnungsschimmer
Syrien verdient Unterstützung, meint De Volkskrant:
„Hoffentlich kommt es nicht zu Uneinigkeiten bei den Rebellen, sodass sie die brüchige Einmütigkeit gegen Assad verspielen. ... Nach dem Sturz des IS-Kalifats 2019 hatte Assad die Initiative zurückgewonnen mit Hilfe des Irans und Russlands. Auch wenn diese Länder Assad nun fallengelassen haben, werden sie die Entwicklungen in Syrien sehr genau verfolgen. ... Trotz aller Unsicherheiten über die Zukunft verdient dieser Umsturz, sofern er in guten Bahnen verläuft, Unterstützung, und es stimmt hoffnungsvoll, so viele Syrer zu sehen, die dasselbe wollen: Einheit, Stabilität und Frieden.“
Gewaltige Herausforderungen und Gefahren
Eldiario.es blickt sorgenvoll auf die sich abzeichnenden gesellschaftlichen Probleme:
„Kann das syrische Mosaik der Vorkriegszeit – multiethnisch, multireligiös, ungewöhnlich tolerant und säkular – wieder aufgebaut werden? ... Die vor uns liegenden Herausforderungen sind gewaltig. Der Bürgerkrieg hat mehr als 300.000 Menschen getötet. ... Die Hälfte der Bevölkerung ist vertrieben. ... Die Gefängnisse leeren sich und eine Flut rachsüchtiger Menschen kehrt in eine dysfunktionale Gesellschaft zurück. ... Humanitäre und sicherheitspolitische Katastrophen drohen. Auch droht, wenn die Dinge aus dem Ruder laufen, eine zerstörerische Auslandseinmischung, die im Krieg ja bereits eine zentrale Rolle gespielt hat.“
Jetzt übernehmen Hardcore-Islamisten
Politiken fürchtet um die Zukunft der Minderheiten in Syrien:
„Die Rebellen werden angeführt von der dschihadistischen Miliz Hayat Tahrir al-Scham – einer extremistischen Gruppe, die im Islamischen Staat ihren Ursprung hat und mit der Al-Kaida verbündet war. Sie ist seither etwas weniger extrem geworden, besteht aber weiterhin aus Hardcore-Islamisten. Wenn diese in Syrien, einem Land mit vielen religiösen Minderheiten und einer langen Tradition religiöser Toleranz, die Macht übernehmen, kann das zu neuen Flüchtlingsströmen führen. ... Europa kann und sollte alles tun, damit Minderheiten nicht vertrieben werden – und sich bereit machen, Syrien massiv bei dem zu erwartenden umfangreichen Wiederaufbau zu helfen.“
Leichter Sieg für Erdoğan
La Repubblica analysiert:
„Auffallend ist die Leichtigkeit, mit der die Türkei die sunnitischen Rebellen zum Sturz von Assad bewegt hat, indem sie sich offen gegen Russland und den Iran, die großen Beschützer von Damaskus, gestellt hat. ... Erdoğan betrachtet Damaskus als Teil seiner natürlichen neo-osmanischen Einflusssphäre und zeigt, dass er seine Handlanger effektiv einzusetzen weiß. ... Es sind sunnitische Milizen, mehr oder weniger dschihadistisch, die auf die Ideologie des politischen Islams der Muslimbruderschaft zurückzuführen sind, von der auch die [Partei] AKP ein Ausdruck ist, mit der Erdoğan das politische Leben der Türkei seit fast einem Vierteljahrhundert beherrscht.“
Moskaus große Niederlage
Der Sturz von Assad ist ein schwerer Schlag für Putin, stellt Jutarnji list fest:
„Dass er Assad im Stich gelassen hat, zeigt einige Schwächen Putins auf. Erstens ist er nicht mehr in der Lage, jeden seiner Verbündeten zu beschützen, was denen sehr zu denken geben wird. Zweitens zeigt sich, dass Russland doch nicht so stark ist, sondern über begrenzte Ressourcen verfügt, da es offensichtlich nicht an mehreren Fronten kämpfen kann. Drittens: Durch das Verlassen des Nahen Ostens hat Russland keinen Einfluss mehr auf die Region, was die These bestätigt, dass der Krieg in der Ukraine Russland nicht nur zermürbt, sondern auch seinen 'Wirkungskreis' verkleinert hat und dazu führt, dass es nicht die Weltmacht ist, wie Putin sie sich wünscht.“
Iran wird in Hysterie ausbrechen
Der Iran und seine möglichen Reaktionen dürfen nicht aus dem Blickfeld genommen werden werden, kommentierte die regierungsnahe Sabah noch vor dem finalen Sturz Assads:
„Teheran, das von Anfang an auf Konfessionen basierende Instrumente entwickelt hatte, um die Achse Irak-Syrien-Libanon in einen schiitischen Halbmond zu verwandeln, ist sehr unzufrieden mit der Schwächung von Assad. ... Es ist zu erwarten, dass der Iran, der durch die Raketenkriege mit Israel zermürbt und dessen paramilitärische Elementen wie der Hashd al-Shaabi und die Hisbollah verwundet sind, hysterisch wird. Als nicht zu ignorierender Staat sollte der Iran in Syrien eher als destabilisierende denn als stabilisierende Macht betrachtet werden.“