Nach Urteil im Fall Pelicot: Was muss sich ändern?

Im Vergewaltigungsprozess von Avignon ist der Hauptangeklagte Dominique Pelicot zu 20 Jahren Haft verurteilt worden. Über Jahre hatte er seine frühere Ehefrau Gisèle Pelicot regelmäßig betäubt und im Internet fremden Männern zur Vergewaltigung angeboten. Diese wurden aufgrund von Videoaufnahmen überwiegend identifiziert und ebenfalls verurteilt. Warum der Fall damit nicht ad acta gelegt werden kann, zeigt ein Blick in Europas Kommentarspalten.

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La Stampa (IT) /

Schämen müssen sich die Verbrecher

Der Prozess markiert einen wichtigen gesellschaftlichen Umbruch, erklärt die Schriftstellerin Nicoletta Verna in La Stampa:

„'Nicht ich muss mich schämen, sondern sie' – der Leitsatz von Gisèle Pelicot und dieses Prozesses eröffnet in seiner klaren Einfachheit ein gigantisches Thema, das nie ernsthaft angesprochen und nie im Entferntesten gelöst wurde: die Scham und das Gefühl der Selbstvernichtung, das Vergewaltigungsopfer empfinden. Die erste Reaktion auf Scham ist der Wunsch zu verschwinden, sich den Blicken der anderen zu entziehen. Pelicot hingegen setzt sich den Augen der Welt aus. ... Sie versteckt sich nicht. Während ihr Mann erklärt, dass er hoffe, bald vergessen zu werden, will sie, dass man sich an sie erinnert. Ihr Mut wird zum kollektiven Erbe.“

eldiario.es (ES) /

Unzähligen anonymen Opfern ein Gesicht gegeben

Die riesige Dunkelziffer muss Frankreich zum Handeln zwingen, fordert eldiario.es:

„Alle zwei Minuten wird in Frankreich eine Frau vergewaltigt. Aber nur sechs Prozent der Opfer erstatten Anzeige. Und nur 0,6 Prozent davon führen zu einer Verurteilung, so die französische Beobachtungsstelle für Gewalt gegen Frauen, mit Daten aus den Jahren 2020 und 2021. ... Gisèle Pelicot ist der Name und das Gesicht einer Geschichte, die ein Unbehagen, einen Protest, eine Forderung katalysiert: dass Frankreich seine Politik gegen männliche Gewalt, seine Statistiken, Mittel, Vorurteile, die Art und Weise, wie die Gesellschaft sexuelle Gewalt versteht, erneuern muss. ... Gisèle Pelicot sagt nach der Verurteilung ihres Ex-Mannes wegen Vergewaltigung: 'Ich denke an die unerkannten Opfer, wir haben den gleichen Kampf.'“

Polityka (PL) /

In feudalen Zeiten hängengeblieben

Polityka mahnt:

„In den Augen vieler Angeklagter schien die Zustimmung des Ehemanns die Frage der Zustimmung der Ehefrau zu regeln. Die 'Herren Jedermann'‚ (Messieurs Tout-le-monde, wie sie von Agence France-Presse getauft wurden) reproduzierten unreflektiert feudale Stereotype, wonach die Frau so etwas wie das Eigentum des Mannes sei. Die Vergewaltigung in der Ehe wurde in Frankreich erst mit der berühmten Reform von 1980 unter Strafe gestellt. In Polen wurde die Bestrafung dieses Verbrechens zwar schon früher, nach dem Zweiten Weltkrieg, eingeführt, aber das bedeutet nicht, dass die Polizei oder die Staatsanwälte das Problem im Blick haben.“

Der Tagesspiegel (DE) /

"Ja heißt Ja" würde den Blick schärfen

Der Tagesspiegel sucht nach Hemmschwellen:

„Eine solche Schwelle könnte das 'Ja heißt Ja' sein, das eine ausdrückliche Zustimmung vor dem Sex verlangt. Die Frau müsste bildlich gesprochen wach auf der Bettkante sitzen und Ja sagen, bevor es zum Äußersten kommt. In Deutschland gilt seit 2017 der Grundsatz 'Nein heißt Nein', was – vergleichbar der viel diskutierten Widerspruchslösung bei der Organspende – Einverständnis erstmal voraussetzt, dem im gegensätzlichen Fall aktiv widersprochen werden kann. ... [B]ei vielen anderen Menschen würde eine 'Ja heißt Ja'-Regelung womöglich den Blick schärfen auf einen zwischenmenschlichen Akt, dessen grundsätzliche Alltäglichkeit unter minimal veränderten Bedingungen schnell zu einer maximalen Straftat werden kann.“

Salzburger Nachrichten (AT) /

Das wahre Täterbild erkennen

Die Salzburger Nachrichten verweisen darauf, dass viele Sexualtäter im Alltag als unauffällige Menschen wahrgenommen werden:

„Auch mit dem Bild des Täters hat der Prozess gnadenlos aufgeräumt. Er lebt nicht zwangsläufig irgendwo am Rand der Gesellschaft. Er steht oft in ihrer Mitte, ist präsent in der Familie, im Freundeskreis, ist engagiert in der Gemeinde und im Alltag meistens ein normaler Vater, Kollege, Bekannter. 'Er ist doch kein Vergewaltiger', sagten Zeugen im Pelicot-Prozess über manche Täter. Doch! Genau das sind sie.“

Le Temps (CH) /

Alle müssen jetzt handeln

Le Temps fordert die Gesellschaft auf, Gisèle Pelicots Beispiel zu folgen:

„Alle müssen anerkennen, dass dieser Weg nur gemeinsam beschritten werden kann. ... Das bedeutet, unsere Kinder zu bedingungslosem Respekt und zur Einvernehmlichkeit zu erziehen. Uns aufrichtig zu fragen, ob wir selbst je unangemessen gehandelt haben und dafür Verantwortung zu übernehmen. ... Es gilt, die Fähigkeit zu besitzen, den Kampf gegen sexuelle Gewalt aus einer sinnlosen Debatte zwischen 'Progressiven' und 'Reaktionären' zu befreien. Und den Mut zu haben, nach unseren Möglichkeiten zu handeln – von der politischen Bühne bis zu Polizeistationen, von den Gerichtssälen bis zu unseren Ehebetten. Auch dann, wenn es unbequem ist, verunsichert oder es kritisiert wird. Gisèle Pelicot hat gehandelt. Jetzt müssen wir beweisen, dass wir das auch können.“