Anschlag auf Touristen in Istanbul
Bei einem Selbstmordattentat vor der Hagia Sophia in Istanbul sind am Dienstag mindestens zehn Menschen gestorben, die meisten von ihnen Touristen. Die Regierung macht die IS-Miliz dafür verantwortlich. Europas Presse diskutiert mögliche Ursachen und Folgen des Anschlags.
Ziel und Zeitpunkt perfekt gewählt
Den Tourismus in der Türkei trifft der Anschlag hart, erklärt die islamisch-konservative Tageszeitung Zaman:
„Wenn der Anschlag dem türkischen Tourismus galt, dann war nicht nur das Ziel, sondern auch der Zeitpunkt gut gewählt. Januar und Februar sind die Monate, in denen in Deutschland und Europa die Urlaubsbuchungen vorgenommen werden. Es ist sicher, dass Hunderttausende Menschen ihre Türkei-Pläne noch einmal überdenken werden. Dass gerade auf Deutsche abgezielt wurde, kann daran liegen, dass man die Tourismusbranche im Mark treffen wollte. Deutsche bilden seit Jahren die größte Besuchergruppe der Türkei. Möglicherweise ist es auch kein Zufall, dass dieser Anschlag nur ein paar Wochen nach dem Beginn des russischen Türkei-Boykotts verwirklicht wurde.“
Erdoğan in die Ecke gedrängt
Als einen weiteren schweren Schlag für die türkische Wirtschaft sieht die liberale Tageszeitung Večer den Anschlag in Istanbul:
„Die Tourismusbranche ist bereits in einer schweren Krise, nachdem Russland seinen Bürgern praktisch verboten hat, an der türkischen Küste Urlaub zu machen. Moskau hat die Türkei nach dem Abschuss des russischen Bombers mit seinen Wirtschaftssanktionen schwer getroffen. Die türkische Wirtschaft stagniert bereits und es ist klar, dass Erdoğan in die Ecke gedrängt ist. Da helfen auch nicht die drei Milliarden Euro, die er dafür bekommt, dass er die Flüchtlinge, die über die Türkei nach Europa drängen, auf türkischem Boden hält. Erdoğan muss sich entscheiden, wer seine Gegner und wer seine Verbündete sind: die IS Terrormiliz oder die entwickelte Welt? Und er muss sich schnell entscheiden. Zwischen zwei Stühlen zu sitzen ist der Türkei zum Verhängnis geworden. “
Erdoğan ist das Hauptproblem
Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat nur wenige Stunden nach dem Attentat in Istanbul einen "Selbstmordattentäter syrischer Herkunft" für dieses verantwortlich gemacht. Die Hauptschuld an dem Anschlag trägt er indes selbst, wettert die katholische Tageszeitung Avvenire:
„Es ist kein Zufall, dass die erste Maßnahme, die Erdoğan wenige Minuten nach dem Attentat ergriff, die Nachrichtensperre war. Diese Undurchsichtigkeit passt zu einem Regime, das keinen Hehl daraus macht, dass es auf Transparenz und Demokratie pfeift, und das von der EU demütigende Steuern für die Flüchtlinge einfordert. ... Erdoğan hat alles daran gesetzt, die ohnehin schon verworrene Situation in der Region noch zu verschlimmern. Die Türkei hätte den Flächenbrand, der in der Region wütet, löschen können und ist stattdessen zu einem der gefährlichsten Brandstifter geworden. An vielen Regierungssitzen wird gemunkelt, was im Grunde längst ein offenes Geheimnis ist: Das Hauptproblem ist der Sultan Recep Tayyip Erdoğan.“
Klarer Schulterschluss mit Ankara gefragt
Völlig unabhängig von Differenzen über die türkische Innenpolitik muss sich Europa außenpolitisch klar hinter Ankara stellen, fordert die linksliberale Tageszeitung El País:
„Der islamistische Terror trifft einen Staat, dem eine Schlüsselrolle im Kampf gegen den IS zukommt. Die Tatsache, dass die Türkei gleichzeitig in eine Auseinandersetzung mit ihrer stärksten Minderheit - den Kurden - verstrickt ist, und auch die Kontroverse über die neue Politik des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan dürfen in keinster Weise daran rütteln, dass Ankara vollste Unterstützung braucht in einem Kampf, in dem das Land an vorderster Front steht. Die unmissverständliche Botschaft an den IS muss lauten, dass jedes weitere Attentat, wenn es auch noch so viel Schmerz bereitet, nur die Entschlossenheit nährt, IS zu bekämpfen. Und dass jeder Mord auf türkischem Boden nur verstärkt, was die Dschihadisten auf keinen Fall wollen: den internationalen Schulterschluss mit Ankara.“
Türkei muss Syrienpolitik hinterfragen
Der türkische Premier Ahmet Davutoğlu hat nach dem Anschlag in Istanbul erklärt, dieser Terror sei aus dem Machtvakuum und dem Bürgerkrieg in Syrien entsprungen. Die Frage ist nur, inwiefern seine Regierung für all das verantwortlich ist, wendet sich die konservative Tageszeitung Milliyet an den Premier:
„Von welchen Mächten und Staaten wurde das Machtvakuum gebildet, über das Sie sprechen? Wie war die Haltung Ihrer Regierung, als es gebildet wurde? Trägt Ihre Regierung zusammen mit dem Westen eine Verantwortung dafür, dass dieser Bürgerkrieg sich entwickelt und den heutigen Punkt erreicht hat? Wenn Sie die Zeit zurückdrehen könnten, würden Sie wieder die syrischen Regimegegner unterstützen? Haben Sie in dem syrischen Bürgerkrieg, der, wie Sie sagten, die größte Terrorquelle ist, Partei ergriffen? Es gibt viele offene Fragen. Sie hätten gestellt werden sollen, als die ersten falschen Schritte unternommen wurden. Doch in dem jetzigen Explosionslärm gehen diese Fragen leider unter.“
Terror in der Türkei ist kein Schicksal
Die türkische Regierung hat die Terrorgefahr von türkischen IS-Rückkehrern und IS-Sympathisanten ignoriert, beklagt die liberal-konservative Neue Zürcher Zeitung:
„Einmal mehr aber muss sich die türkische Regierung jetzt fragen lassen, was sie eigentlich gegen die Bedrohung unternimmt, die vonseiten türkischer IS-Rückkehrer und IS-Sympathisanten ausgeht. Auch sollte sie überdenken, ob sie im 'Krieg gegen den Terror' nicht die falschen Prioritäten setzt. Viel zu lange unterstützte Erdoğan den Kampf jihadistischer Freischärler in Syrien, mehr als einmal machte er deutlich, dass er nicht den IS, sondern die PKK und ihren syrischen Ableger als grösste Gefahr einschätzt. Hat er begriffen, welche Folgen das für die Sicherheit im eigenen Land hat, oder nimmt er den Terroranschlag von Istanbul wirklich nur als Schicksalsschlag wahr? Würde die Regierung nur halb so viel Kräfte gegen den IS aufbringen, wie sie mit Gewalt im kurdischen Südosten agiert, hätte der IS nicht ein so leichtes Spiel.“