Erneut Flüchtlingstragödie im Mittelmeer
Vor der libyschen Küste hat sich in der Nacht zum Sonntag die möglicherweise schlimmste Flüchtlingskatastrophe der jüngeren Vergangenheit ereignet. Laut Augenzeugenberichten könnten dabei mehr als 900 Menschen ertrunken sein. Nur die Stabilisierung der Bürgerkriegsländer Syrien und Libyen wird Menschen von der Flucht abhalten, meinen einige Kommentatoren. Andere fordern, die Tore der Festung Europa weit zu öffnen.
Situation in Libyen und Syrien stabilisieren
Nur wenn es die internationale Gemeinschaft schafft, die Konfliktländer Syrien und Libyen zu stabilisieren, können Flüchtlingskatastrophen verhindert werden, meint die konservative Tageszeitung ABC: "Die EU will einfach nicht wahrhaben, dass sich die Hölle der Kriege in Libyen und Syrien über das Mittelmeer bis an unsere Küsten ausweitet, in Gestalt von verzweifelten Flüchtlingen, die Schutz suchen, wo sie können. Wenn sich tausende von Menschen Schleppern anvertrauen und ihr Leben auf einer so waghalsigen Überfahrt riskieren, liegt das daran, dass das Risiko, in ihrer Heimat zu bleiben noch größer ist. Wer sich einen Moment lang in die verzweifelte Lage dieser Menschen versetzt, weiß, welche Lösung Europa ihnen anbieten sollte. ... Man darf nicht weiterhin ignorieren, dass das Problem immer weiter wachsen wird, solange sich die Situation in Libyen und Syrien nicht stabilisiert. Je länger diese Konflikte anhalten, desto wahrscheinlicher wird es zudem, dass sie sich auf weitere Länder ausweiten."
Auch Afrika steht in der Pflicht
Europa muss die Flüchtlingskatastrophen vor seinen Türen verhindern - allerdings nicht allein, meint die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung: Die "Ursachen [für die Massenflucht] liegen in Afrika und anderen Krisenherden. Auch das entbindet natürlich Europa nicht von seiner Verantwortung, die sich aus historischen Gründen, dem eigenen Anspruch und seiner konkreten Politik ergibt - einer Sicherheits- und Wirtschaftspolitik, die immer wieder überprüft werden muss. Sie [die EU] sollte darüber nachdenken, etwa Anträge nicht erst in Europa entgegenzunehmen. ... Es geht allerdings auch nicht an, Europa zum Hauptschuldigen einer Art Massenmord zu machen: Wo sind die Aufschreie afrikanischer Staatsführer, wo ihre Sofortprogramme zur Verhinderung des Ausblutens ihres Kontinents? Die Anklage, Europa sei für alles Elend verantwortlich, ist auch eine Art von neuem Kolonialismus. Das hat Afrika nicht verdient."
Ganz neue Wege in der Asylpolitik gehen
Die EU braucht dringend eine Kursänderung in der Einwanderungspolitik, fordert die konservative Tageszeitung Le Figaro: "François Hollande, der seine drei Jahre Amtszeit im Elysée-Palast 'feiert', hat am Sonntag einige 'Boote mehr' versprochen. Die EU-Kommission in Brüssel bereitet für Mai eine 'aggressive Strategie' vor, mit der sie vor allem mehr Mittel für die EU-Grenzschutz-Agentur Frontex bereitstellen will. All das ist völlig unzureichend. Da sie in Tripolis keinen staatlichen Ansprechpartner haben, brauchen die Europäer ein UN-Mandat, um vor der libyschen Küste Polizei zu spielen. Dort hätten sie die besten Chancen, illegale Einwanderer abzuschrecken, Schleuser zu verhaften und damit Flüchtlingstragödien zu verhindern. Ist diese Priorität einmal erledigt, wird es Zeit, die Asylgesetzgebung und die Regeln für Freizügigkeit in der EU zu überprüfen, um eine menschliche und politische Antwort auf die Migrationsfragen zu finden."
Festung Europa öffnen
Um neuerliche Tragödien im Mittelmeer zu verhindern, muss die EU ihre Festung gänzlich öffnen, fordert der linksliberale Tages-Anzeiger: "Es gibt nur eine Möglichkeit, um das Sterben auf dem Mittelmeer sofort zu stoppen. Die EU-Staaten (und die Schweiz) müssten gemeinsam Fährverbindungen oder Luftbrücken zu den Anrainerländern einrichten. Es geht um Hunderttausende, ja Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg und Misere zu Hause. Wer Dramen wie jetzt vor Libyen oder vor Lampedusa ganz verhindern will, muss die Tore zur Festung Europa ganz weit öffnen. Und er muss sichere Transportmittel zur Verfügung stellen. Das Geschäft der Schlepperbanden wird von einem Tag auf den anderen zum Erliegen kommen. Ein Grossteil der Flüchtlinge in Europas instabiler Nachbarschaft wird in die EU-Staaten strömen. Diese werden sich auf einen Verteilschlüssel einigen müssen."