Türkei vor Schicksalswahl
Drei Tage vor der türkischen Parlamentswahl hat die Menschenrechtsorganisation Reporter ohne Grenzen Präsident Recep Tayyip Erdoğan aufgefordert, oppositionelle Medien nicht weiter zu schikanieren. Bei dieser Wahl geht es um die Verteidigung der Demokratie, meinen Kommentatoren und hoffen auf einen Einzug der kurdennahen linken HDP ins Parlament.
Erdoğan darf nicht noch mächtiger werden
Eine Zweidrittelmehrheit der AKP und damit die Möglichkeit für Präsident Erdoğan, die Verfassung zu ändern, wäre aus Sicht der konservativen Tageszeitung Financial Times eine Katastrophe für die Türkei: "Das Land ist gespalten, und die dschihadistische Bedrohung drängt gegen seine Grenzen mit Syrien und dem Irak. Dazu kommt, dass sich der Präsident zunehmend eigensinnig und autoritär verhält. Angesichts dessen wäre es schlecht, wenn die AKP eine Mehrheit erhielte, die für Erdoğan groß genug wäre, die Verfassung umzuschreiben und ein Präsidialsystem nach seinem Bild zu formen. ... Er hat der Regierung Macht entrissen, das Recht mit Füßen getreten und die Medien sowie private Unternehmen verfolgt. Es wäre eine Katastrophe, wenn er noch mehr Macht gewinnen würde und dazu die Mittel, die letzten verbliebenen Kontrollen seines Regierens aus dem Weg zu räumen."
Türken müssen Demokratie verteidigen
Dass Präsident Erdoğan die türkische Parlamentswahl zu einem Referendum über sein Präsidialsystem erhoben hat, ist nach Ansicht der linksliberalen Frankfurter Rundschau eine Alles-oder-Nichts-Strategie: "Viel mehr als das Präsidialsystem interessiert die Wähler nämlich das Geld im Portemonnaie, das immer weniger wird, und die dramatisch hohe Arbeitslosigkeit. ... Verschwendung ist die Achillesferse des Präsidenten, der einst mit dem Versprechen antrat, die Korruption auszurotten. ... Die Türkei entscheidet am Sonntag über ihre Zukunft: mittelasiatische Autokratie oder europäische Demokratie. Diesmal wird sich zeigen, ob die Opposition es schafft, ihre Wähler zu mobilisieren, und ob die Türken reif genug sind, die Bedeutung der Wahl zu erkennen und ihre Demokratie zu verteidigen."
Nur Kurden können den Sultan stoppen
Das Schicksal der Türkei liegt in der Hand der Kurden, urteilt die liberale Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore: "Kurz vor den Wahlen am Sonntag, die entscheiden, ob Erdoğan vom unumstrittenen Pascha der Politik auch zum Sultan einer Präsidialrepublik wird, hat er offenbar das Maß überschritten, das seine europäischen Ambitionen noch glaubwürdig erscheinen ließ. Denn Erdoğan hat, wie schon Putin in Russland, vor nichts zurückgeschreckt, um seine Gegner zu diskreditieren. Kritische Stimmen der Medien und Oppositionspolitiker wurden von ihm als Verräter der nationalen Interessen im Dienst der westlichen Mächte an den Pranger gestellt. Trotzdem wird die AKP die Wahlen gewinnen. Doch die lebenswichtige Frage für Erdoğan ist folgende: Wird er die Mehrheit erreichen, um die Verfassung zu ändern? Die HDP liegt laut Umfragen bei zehn Prozent. Somit hängt alles von einer Handvoll kurdischer Stimmen ab."
AKP-Attacken aus Angst vor Wahlschlappe
In dieser Woche kam es in der Türkei zu drei Angriffen auf die kurdennahe linke HDP, bei denen ein Mensch getötet und mindestens zwei verletzt wurden. Erdoğan warf am Mittwoch der "armenischen Lobby", Homosexuellen und der Doğan-Mediengruppe Volksverhetzung vor. Die zahlreichen Attacken von Erdoğan und der Regierungspartei AKP besonders gegen Kurden und Armenier zeugen von ihrer Angst vor Stimmenverlust bei der Wahl am Sonntag, analysiert die Wochenzeitung der armenischen Minderheit Agos: "Die AKP ist daran gewöhnt, als starke Partei allein zu regieren und schon die Möglichkeit, diese Alleinherrschaft zu verlieren, lässt sie eine ziemliche rohe, rassistische und diskriminierende Sprache benutzen. Sie wird auch kein Problem darin sehen, stark sexistische und erniedrigende Argumente zu verwenden. Die letzten Wochen haben uns folgendes gezeigt: Angesichts der Möglichkeit, ihre absolute Mehrheit zu verlieren, stellen die AKP und ihre Kreise fast sogar die Wahl selbst als einen Putsch-Versuch dar."