VW-Affäre weitet sich aus
Während VW-Chef Martin Winterkorn am Mittwoch zurückgetreten ist, gerät in der Affäre um gefälschte Abgaswerte auch die Bundesregierung in Erklärungsnot. Sie weiß offenbar seit Herbst 2014 von erhöhten Emissionswerten im Realbetrieb. Einige Kommentatoren richten den Blick ebenfalls auf die deutsche Politik und bemängeln deren Verflechtung mit der Wirtschaft. Andere erklären den Skandal damit, dass der Kampf um die Gunst der Kunden Unternehmen skrupellos werden lässt.
Das deutsche System der Mitwisserschaft
Ursächlich für den Skandal bei Volkswagen sind auch die für Deutschland typischen engen Verbindungen zwischen Politik und Wirtschaft, glaubt die liberale Tageszeitung Il Sole 24 Ore: "Eins hat Frau Merkel nicht gesagt und wird sie vermutlich auch nicht sagen, denn der Punkt wurde in der Debatte in Deutschland bislang ausgespart: Im Zentrum der Angelegenheit und gleichzeitig im Zentrum des Systems steht eine Verflechtung aus Politik und Wirtschaft, die von innen heraus das Sinnbild der Zuverlässigkeit und Anständigkeit der deutschen Industrie und Gesellschaft unterminiert. Die Rolle der [niedersächsischen] Landesregierung und der Gewerkschaften [als Großaktionär und Mitglieder des Aufsichtsrats] bei der (unzureichenden) Kontrolle von Volkswagen und generell der nationalen Unternehmen ist dermaßen groß, dass anzunehmen ist, dass das deutsche System leicht von der gemeinsamen Verwaltung in stillschweigende Kompromisse und Mitwisserschaft abgleitet. Der Volkswagenskandal ist das eklatanteste, die Vergehen des öffentlichen Bankensektors sind das schlimmste Beispiel."
Was verstehen die Deutschen als Fehler?
Einen Aspekt vermisst das linksliberale Wochenmagazin L'Obs bislang in der deutschen Debatte über den VW-Skandal: "Das einzige Thema, das unsere deutschen Kollegen nicht angesprochen haben, ist die Frage nach der Moral. … Wie wird das Land von Angela Merkel, das die furchtbaren Griechen, die 'Betrüger', 'Lügner' und 'Schwindler' in Sachen Zahlen, immer wieder gerügt hat, künftig den Druck aufrechterhalten, wenn Griechenland ein viertes Hilfspaket oder einen Schuldenerlass fordert - was unvermeidlich sein wird? Es geht hier nicht um irgendeine Form von Schadenfreude, sondern es geht um die ernsthafte Frage danach, was genau das Wort 'Fehler' im Verständnis der Deutschen umfasst."
Unternehmen skrupellos im Kampf um Kunden
Die Verbraucher sollten sich fragen, welchen Anteil sie an Skandalen wie dem beim Autobauer VW haben, meint die liberale Tageszeitung De Standaard: "Berichte über Steuerbetrug, Kinderarbeit, Konstruktionsfehler, Nebenwirkungen von Arzneimitteln: Sie kommen und gehen, ohne dass sich viel verändert. Man murmelt etwas Entschuldigendes, ein Chef tritt zurück, der Börsenkurs kriegt einen Schlag, aber schnell ist alles wieder so, wie es war. ... Schlimmer als ein Unternehmen, das der Volksgesundheit schadet, die Umwelt verseucht oder soziale Grundrechte verletzt, ist eins, dessen Produkte nicht mehr cool sind. Das wird knallhart von den auf Status fixierten Kunden bestraft. ... Es verwundert nicht, dass Unternehmen bereit sind, im ständigen Krieg um die Gunst des Kunden große Risiken einzugehen. Denn sie werden weniger nach ihrem Verhalten gegenüber der Gesellschaft beurteilt, als vielmehr nach ihrer Fähigkeit, ihren Kunden zu gefallen."
USA nehmen Verbraucherschutz ernster als wir
Angesichts der Tatsache, dass der VW-Skandal mit Ermittlungen in den USA begann, fragt die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung, warum immer wieder amerikanische Behörden Betrügereien gerade auch von deutschen Unternehmen aufdecken: "Die schwarzen Kassen von Siemens, die Betrügereien der Deutschen Bank auf so ziemlich allen Märkten dieser Welt, der ungeheuerliche Betrug von Volkswagen und sogar die Skandale bei der Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft nach Qatar wären ohne Ermittler aus Amerika weder bekannt geworden noch geahndet worden. Wie passt das zum Zerrbild der Gegner eines Freihandelsabkommens mit den Vereinigten Staaten, dem zufolge deutsche Verbraucher mit amerikanischen Chlorhühnchen vergiftet werden sollen? In Wahrheit kommt der Gedanke des Verbraucherschutzes aus Amerika. Dort wird er übrigens ernster genommen als hierzulande."