Kämpfe in Syrien überholen Diplomatie
Die Hoffnung auf eine Feuerpause in Syrien ist trotz der Dialogversuche in München in weite Ferne gerückt. In Aleppo und Idlib wurden Krankenhäuser und Schulen bombardiert. Russland und die USA beschuldigen sich gegenseitig, verantwortlich zu sein. Kommentatoren zeigen sich zunehmend besorgt um den Weltfrieden.
Ankara hat nur eigene Interessen im Sinn
Die türkische Armee beschießt im Norden Syriens Gebiete unter kurdischer Kontrolle. Die kurdischen Einheiten gehören im Kampf gegen die Terrororganisation IS in Syrien zu den wichtigsten Verbündeten des Westens. Ankara verfolgt in der Region ganz klare Interessen, meint die liberale Tageszeitung Phileleftheros:
„Ankara will mit den Kurden fertig werden, weil es weiß, dass die Türkei nicht sicher sein wird, so lange der Traum eines unabhängigen kurdischen Staats existiert. Doch Ankara hat begrenzte Möglichkeiten. Im Irak entwickelt sich seit einiger Zeit ein unabhängiger kurdischer Staat. Ähnlich ist die Situation der Kurden in Syrien, die - wie es scheint - sowohl die USA als auch Russland an ihrer Seite haben.“
Putin diktiert Friedensbedingungen mit Bomben
Der Kreml weist Vorwürfe zurück, für die Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser in Aleppo am Montag verantwortlich zu sein. Dabei ist der simultane Einsatz von Dialog und Bomben eine besondere Spezialität Putins, erinnert die linksliberale Tageszeitung La Repubblica:
„Der Kampf um Aleppo, der sich nach dem Eingreifen der russischen Luftwaffe verschärft hat und nun in die entscheidende Phase geht, mutet zu Recht wie eine Wiederholung dessen an, was genau vor einem Jahr in der Ukraine geschah. Während damals in Minsk die Staatsoberhäupter und Regierungschefs (von Deutschland, Frankreich, der Ukraine und Russlands) verhandelten, verstärkte die Artillerie der Separatisten, unterstützt von den Russen, ihre Angriffe auf Debalzewe. ... Am Verhandlungsstich in der Hauptstadt von Belarus machte Wladimir Putin keinen Hehl aus seiner Genugtuung. Zu verhandeln, während die Kanonen sprechen, ist eine gute Methode für denjenigen, die für sich dann das in letzter Minute eroberte Gebiet beanspruchen.“
Russland stellt USA vor Dilemma
Die Tage vor Inkrafttreten der in München festgelegten Waffenruhe nutzt Russlands Präsident Wladimir Putin zur Verbesserung seiner Verhandlungsposition, meint auch das Onlinemagazin Slate:
„Die Zunahme der russischen Bombardierungen und die Belagerung von Aleppo haben nicht das Ziel, die Verhandlungen zu sabotieren. Sie dienen dazu, vor Ort vollendete Tatsachen zu schaffen, die den Westen zwingen, das zu akzeptieren, was er bislang abgelehnt hat: den Machterhalt Baschar al-Assads. 'Was soll ich tun? Russland den Krieg erklären?', antwortete John Kerry [auf Beschuldigungen, die Zivilbevölkerung nicht ausreichend geschützt zu haben]. Die USA stehen vor einem Dilemma: Entweder sie engagieren sich in Syrien stärker, eventuell durch Entsenden von Bodentruppen oder Einrichten von Flugverbotszonen, um die Zivilisten zu verschonen; damit diese eingehalten werden, sind jedoch militärische Mittel erforderlich. Oder sie akzeptieren die russischen Bedingungen.“
Aus syrischer Revolution wurde ein Weltkrieg
Die syrische Revolution gegen das Regime von Bashar al-Assad war bereits in dem Moment gescheitert, in dem sich der Aufstand in einen Konfessionskrieg gewandelt hat, analysiert die linksliberale Tageszeitung Delo:
„Die säkularen Rebellen sind ohne Hilfe geblieben - und dieses Vakuum haben die extremen islamistischen Gruppen genutzt. Sie haben mit Hilfe der sunnitischen arabischen Staaten gegen das schiitische Regime und seine globalen und regionalen militärischen Knappen und Sponsoren gekämpft. Von Syrien ist nur noch eine verwüstete geografische Region übriggeblieben, in der schon lange ein globaler Kampf herrscht, in den mehr als 70 Staaten auf verschiedenen Seiten der Fronten verwickelt sind. Darin eingeschlossen die Terrormiliz Islamischer Staat, gegen die im syrischen Weltkrieg offiziell all diejenigen kämpfen, die mit ihr inoffiziell zusammenarbeiten. All diejenigen also, die Nutzen von einem andauernden Krieg haben.“
Kreml könnte Mord an Zivilbevölkerung verhindern
Bei Raketenangriffen unter anderem auf Krankenhäuser sind am Montag in Syrien fast 50 Zivilisten getötet worden. Moskau ist für diese Kriegsverbrechen mitverantwortlich, kritisiert die linksliberale Süddeutsche Zeitung:
„Auch wo Russland nicht selber die Bomben wirft, macht es sich mitschuldig an der Strategie der verbrannten Erde, mit der Baschar al-Assad seit Jahren versucht, die Opposition jenseits der Terrormilizen des Islamischen Staates und der Nusra-Front zu zerstören. Um Angriffe auf zivile Ziele zu unterbinden, braucht es keine militärische Zusammenarbeit mit den USA, wie sie Moskau fordert. Alles was es braucht, ist ein Befehl des Kreml. Die vereinbarte Waffenruhe in Syrien ist noch nicht in Kraft. Von einem Zeichen des guten Willens seitens der russischen Regierung oder des Assad-Regimes ist nichts zu sehen.“
Türkei muss sich aus Syrien-Krieg raushalten
Der türkische Premier Ahmet Davutoğlu hat am Montag angekündigt, die Türkei werde nicht zulassen, dass kurdische Milizen die Stadt Azaz im Nordwesten Syriens erobern. Für hochgefährlich hält die aktuelle Situation die liberale Internetzeitung Radikal:
„Was steckt dahinter, dass die Türkei an den Rand eines Krieges gebracht wird, und in ihrem Inneren wie auch außerhalb dieses Unbehagen entstehen lässt? Die Türkei will es so erklären: Weil das Land, das mit Syrien eine 910 Kilometer lange Grenze teilt, von den USA und Russland außen vor gelassen und seine Sicherheitsbedenken missachtet wurden, wird die Vereinbarung dieser beiden Länder auch nichts bringen. ... Doch die Geschichte ist voller Beispiele von Kriegen, die in einem unerwarteten Moment wegen eines an sich nichtigen Grundes ausbrachen. Deswegen ist es sehr wichtig, wenigstens ein bisschen aus der Geschichte zu lernen und sich von der Kriegsgefahr fernzuhalten.“
Assad nach München wieder fest im Sattel
Die Konferenz in München hat die Stellung von Syriens Diktator Baschar al-Assad gestärkt, weil sich Russland mit seinen Vorstellungen habe durchsetzen können, meint die christlich geprägte Tageszeitung Kristeligt Dagblad:
„Das Abkommen von München ist der Beweis dafür, dass Russland und Präsident Putin jetzt den Taktstock für Syrien in den Händen halten. Dieser Tatsache haben sich die USA und der Westen gebeugt und damit Assad gestärkt. Die Amerikaner mögen noch so gerne an der Forderung festhalten, dass Präsident Assad weg muss, aber dem stehen die Russen mit ihrer Forderung gegenüber, dass die syrische Bevölkerung über das Schicksal ihres Landes und ihres verhassten Führers entscheiden muss. Weil man sich auch nicht darauf einigen kann, wie eine Übergangsregierung aussehen soll, bleiben die größten Hürden auf dem Weg zum Frieden, trotz der Hoffnung aus München, bestehen.“
Diesmal pokert Putin zu hoch
Putins Strategie, in Syrien Boden zu gewinnen, um seine Position gegenüber der Nato und der EU zu stärken, könnte ihm auf die Füße fallen, meint die liberale Tageszeitung la Stampa:
„Um das undurchsichtige Spiel von Putin zu begreifen, ist ein Blick auf seine Agenda nötig. Zwei Daten bringen ihn in Bedrängnis: der Nato-Gipfel am 8. und 9. Juli in Warschau und der 31. Juli, an dem es um die Verlängerung der Sanktionen geht. ... Die persönliche Beziehung zwischen Putin und Obama war noch nie die beste. Die Strategie, die Verhandlungslatte höher zu legen, war Putin oft dienlich, zumindest kurzfristig. Doch diesmal zeugt sie von folgenschwerer Kurzsichtigkeit. Schlägt er die noch dargereichte Hand des Weißen Hauses aus, würde das die Nato in die Arme derjenigen treiben, die sie in ein rein anti-russisches Bündnis verwandeln wollen. Auch jede rationale Überlegung über die Intensität der Sanktionen seitens der EU würde Putin damit von vornherein ausschließen. “
In Syrien gibt es keine moderate Opposition
Eine Lösung in Syrien wird dadurch erschwert, dass alle Oppositionsgruppen radikal sind, meint die liberale Tageszeitung Hürriyet Daily News:
„Es ist ein offenes Geheimnis, dass es in Syrien keine 'moderate Opposition' mehr gibt - wenn es sie überhaupt gegeben hat. Wir alle wissen, dass die USA und ihre Verbündeten nicht einmal eine Handvoll moderater Akteure finden konnten, um sie für den Kampf gegen IS und al-Nusra auszubilden und gegen die zahlreichen anderen Oppositionsgruppen, die sehr ähnliche Ansichten wie IS und al-Qaida teilen. Wir wissen, dass die Mehrheit der Syrer moderat ist. Deshalb haben sie sich entschieden, aus dem Land zu fliehen anstatt in einen bewaffneten Konflikt gegen das Regime involviert zu werden. Wir wissen, dass die, die sich entschieden haben, zu kämpfen, dies für eine Art von islamischem Staat oder Kalifat tun, und dass die, die in westliche Länder geflohen sind, lieber in liberalen Gesellschaften leben wollen.“
Hochgefährliches Pulverfass
Durch das Eingreifen immer weiterer Akteure in den Syrienkonflikt wird der Weltfrieden mehr und mehr bedroht, warnt die liberal-konservative Tageszeitung Postimees:
„Ob Russland wirklich bereit ist, für den Schutz von Assads Regime einen Konflikt mit Saudis und Türken zu riskieren, die auch von den USA unterstützt werden, ist noch unklar. Klar ist aber, dass der Waffenstillstand in Syrien, den die westlichen Staaten und Russland letzte Woche in München vereinbart haben, nicht funktionieren wird. Die vielkritisierte Außenpolitik von Präsident Obama hat damit einen weiteren Rückschlag bekommen und Syrien bleibt das Pulverfass unserer Zeit, das den Weltfrieden gefährdet.“
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