40 Jahre Haft für Karadžić
Nach dem Urteil gegen Radovan Karadžić wollen seine Rechtsberater in Berufung gehen. Der ehemalige bosnische Serbenführer war vom UN-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 40 Jahren Haft verurteilt worden. Kommentatoren bewerten den Urteilsspruch kontrovers.
Das Recht gilt auch für schlimmste Verbrecher
Im Fall Karadžić hat der Rechtsstaat gesiegt, lobt die liberale Tageszeitung NRC Handelsblad und sieht darin ein Vorbild auch für andere Fälle von Menschenrechtsverletzungen:
„Die Welt verfügt also doch über juristische Mechanismen, mit denen Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestraft werden können. Daran kann man sich in einer Zeit von Angst und Terrorbedrohung festhalten. Eine Antwort darf also nicht nur aus Drohnenangriffen bestehen - etwa auf Führer der IS-Terrormiliz. Auch der Reflex, wie in Frankreich den Ausnahmezustand zu verhängen und in großem Stil ohne richterlichen Beschluss Häuser zu durchsuchen, ist nur als Panikmaßnahme aufzufassen. Wer einen Rechtsstaat bewahren will, muss ihn bei jedem Kriegsverbrechen und jedem Anschlag verteidigen und (dadurch) stärken - gerade wenn es schwierig wird. In solchen Momenten muss jeder an das erinnert werden, was in der Verfassung steht - und vor allem auch warum: Wenn es darauf ankommt, steht das Recht über der Macht.“
Tribunal misst mit zweierlei Maß
Die Rechtsprechung des UN-Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien ist alles andere als unparteiisch, kritisiert der Philosoph und Schriftsteller Daniel Salvatore Schiffer auf seinem Blog bei der Onlinezeitung Mediapart:
„Was einen neutralen Beobachter sehr wohl überrascht, ist zu sehen, inwieweit die bosnisch-muslimischen, kroatischen und kosovarischen Verantwortlichen für die gleichen Verbrechen systematisch freigesprochen wurden: Weder der frühere Präsident der bosnischen Muslime, Alija Izetbegović, der eine sehr fundamentalistische 'Islamische Erklärung' verfasst hat, deren Fanatismus den Ideologen von Al-Qaida und IS in nichts nachsteht, noch der frühere kroatische Präsident Franjo Tudjman, ein notorischer Antisemit und versierter Revisionist, wurden jemals von diesem Tribunal belangt. ... Im Gegenteil: Sie sind - mit Ehren überhäuft - einen schönen Tod gestorben und wurden wie Helden, wenn nicht sogar wie Märtyrer begraben!“
Gerichtshof bringt keine Versöhnung
Die Verurteilung Radovan Karadžićs wegen Völkermords wird kaum die erhoffte Normalisierung in den Beziehungen der Länder Ex-Jugoslawiens bringen, meint die Bloggerin Adelina Marini:
„Kroatien hat bereits angekündigt, dass es die EU-Beitrittsverhandlungen mit Serbien im Kapitel 'Justiz und Grundrechte' wegen [des nationalistischen serbischen Politikers] Vojislav Šešelj blockieren wird. … Serbien reagierte darauf scharf und beschuldigte Zagreb, den Rechtsextremismus im eigenen Land nicht im Griff zu haben. ... Das zeigt, dass die Urteile des Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien anstatt Genugtuung und Versöhnung zu bringen, die Gräben weiter vertiefen und die Länder Ex-Jugoslawiens möglicherweise sogar in die Ausgangsposition zurückversetzen.“
Karadžić hat seinen Plan verwirklicht
Die Verurteilung von Karadžić kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass er seinen Plan verwirklicht hat, analysiert Miljenko Jergović, kroatischer Autor bosnischer Herkunft, in der liberalen Tageszeitung Jutarnji list:
„Die Bosnier haben ein Problem mit der Verurteilung von Karadžić, weil sie in einem Land leben, in dem noch immer sein Geist herrscht, oder weil sie von seinem Geist aus dem Land vertrieben wurden. ... Es war von vornherein klar, dass niemand mit dem Urteil zufrieden sein würde, wie immer es auch ausfallen würde. Aber nicht, weil es ohnehin keine Strafe gibt, die all die Verbrechen von Karadžić umfassen könnte. Es wurde einfach keine Welt geschaffen, in der es ein klares Verständnis seiner Schuld gäbe. ... Er wurde verurteilt, ohne dass klar gesagt wurde, dass alles schlecht ist, was er gemacht hat. Er wurde verurteilt und in Bosnien ist heute alles genau so, wie er es gewollt hat. Und nicht nur in Bosnien: Auch in Europa, Brüssel, Ankara, Istanbul und Paris sieht alles genauso aus, wie Karadžić es 1992 wollte.“
Frieden in Bosnien noch immer in Gefahr
Der Frieden in Bosnien ist weiterhin äußerst fragil, kommentiert die liberale Tageszeitung Kaleva angesichts der Verurteilung des früheren bosnischen Serbenführers Radovan Karadžić:
„Der Spruch des Gerichts kann als eines der wichtigsten europäischen Kriegsverbrecherurteile seit den Nürnberger Prozessen in den 1940er Jahren angesehen werden. Es ist sehr wichtig, dass die für die Verbrechen Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden - auch noch Jahre später. ... Auf dem derzeitigen Gebiet Bosniens wurde seit dem Friedensvertrag von 1995 nicht mehr gekämpft, aber der Frieden ist weiterhin sehr zerbrechlich. ... Noch immer gelingt es vielen Politikern durch die Erzeugung von Bitterkeit, Vorurteilen und durch Bedrohungen Unterstützer hinter sich zu scharen. Die Beteiligung an Wahlen und zivilgesellschaftliches Engagement sind entscheidend dafür, dass Bosnien nicht wieder in Gewalt versinkt. Gleichzeitig ist es wichtig, dass Europa die verantwortungsbewussten Kräfte stützt.“