Neuer Zündstoff im Satire-Streit mit Ankara
Nachdem der deutsche Botschafter in der Türkei wegen einer NDR-Satire einbestellt wurde, sorgt nun Jan Böhmermann mit einem "Schmähgedicht" für Ärger in Ankara. Der türkische Präsident Erdoğan stellte persönlich Anzeige gegen den Satiriker. Wie lässt sich der Streit lösen?
Berlin endeckt die Grenzen des Humors
Jan Böhmermann hat zu viel von der deutschen Regierung erwartet, kommentiert die konservative Tageszeitung Kathimerini:
„Was der deutsche Komiker wahrscheinlich nicht in Betracht gezogen hat ist, dass sein Metahumor nicht die vollständige Rückendeckung der deutschen Regierung haben wird. Im Gegensatz zu Erdoğan sagt man, dass Merkel Humor hat. Oft aber haben die bilateralen Beziehungen ein größeres Gewicht als der Schutz der Meinungsfreiheit. Böhmermann hat kürzlich eine Polizeieskorte bekommen. Das betreffende Video wurde aus den Archiven des staatlichen Fernsehers zurückgezogen. Und das Sagen hat die deutsche Justiz, die den gordischen Knoten lösen muss. … Deutschland entdeckt nach und nach, dass Humor schließlich Grenzen haben könnte. Vor allem, wenn es um Berlins Partner geht, der über seinem vergoldeten Thron seine Superwaffe, nämlich den Flüchtlings-Deal, bedrohlich hin und her schwingt.“
Böhmermann schürt Hass
Böhmermann muss jetzt Verantwortung übernehmen, fordert das wirtschaftsliberale Handelsblatt, nachdem der türkische Präsident persönlich Anzeige gegen den Satiriker gestellt hat:
„Jan Böhmermann hat nichts bloßgestellt, sondern mit gezielter Provokation einen künstlichen Aufreger erschaffen, der sich nun verselbstständigt. ... Das Traurige an Clowns wie Böhmermann ist: Sie befeuern jene Politikverdrossenheit, die sie so gern verurteilen. Für Böhmermanns Fanbase, und die findet sich vor allem im Netz, sind die Feinde mal wieder die dumme deutsche Regierung, das verrottete System, aber auch das blöde öffentlich-rechtliche Fernsehen, das den umstrittenen Beitrag mittlerweile aus seiner Mediathek gelöscht hat. Der einzige Gewinner: Alles-Ironisierer und Meta-Ebenen-Profi Böhmermann. Dabei schürt er schlicht Hass. Er ist nicht das Opfer, sondern der Täter. Wenn Satire alles darf - warum nicht mal Verantwortung übernehmen für den angerichteten Schaden, Herr Böhmermann?“
Dumme Satire nicht überbewerten
Der Kolumnist Mehmet Y. Yılmaz lässt kein gutes Haar am Böhmermann-Gedicht, warnt Ankara in der konservativen Tageszeitung Hürriyet aber vor überzogenen Reaktionen:
„Noch nie wurden wir Zeuge von politischer Satire von so niedrigem Niveau. ... Als Zuschauer dachte ich, dass meine Intelligenz beleidigt wurde. ... Und dieses dumme Programm hat in der Türkei zu Recht noch größere Reaktionen hervorgerufen. ... Der stellvertretende Premier Numan Kurtulmuş ging [jedoch] so weit, zu sagen, damit sei ein schweres Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen worden. Ich möchte nur auf den Widerspruch aufmerksam machen, dass eine Regierung, die der engste Freund des sudanesischen Präsidenten Omar al-Baschir ist, welcher vom Internationalen Strafgerichtshof wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesucht wird, ein dummes Satireprogramm 'Verbrechen gegen die Menschlichkeit' nennt. Wenn Herr Kurtulmuş möchte, dass seine Worte ernst genommen werden, sollte er sie mit mehr Vorsicht wählen.“
Merkel heuchelt in Sachen Pressefreiheit
Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo im vergangenen Jahr verteidigte Bundeskanzlerin Angela Merkel noch die Pressefreiheit, doch mit ihrer Böhmermann-Rüge zeigt sie, wie viel von diesem Engagement zu halten ist, poltert der Kolumnist der rechten Tageszeitung Magyar Hírlap, Zsolt Bayer:
„Angela Merkel setzte nach dem Attentat auf Charlie Hebdo eine pharisäische Fratze auf. Damals hieß es, dass die Presse- und Meinungsfreiheit zu den wichtigsten europäischen Werten gehöre. Und dass es das Recht von Charlie Hebdo sei, die heiligsten Gefühle von Muslimen und Christen zu verletzen. Denn das mache Europa aus. … Die Pressefreiheit steht über den Befindlichkeiten von Gläubigen. Für Merkel, dieser verlogenen und niederträchtigen Person, passte dies damals noch zu ihrem politischen Interesse. Heute indes verfolgt sie ein anderes politisches Interesse: Erdoğan in den Allerwertesten zu kriechen.“
Merkel opfert Pressefreiheit dem Pragmatismus
Merkel biedert sich mit ihrer Kritik an Jan Böhmermann der türkischen Regierung an, kritisiert die linksliberale Berliner Zeitung:
„Die Kanzlerin opferte die von ihr eben noch heilig geheißenen Grundwerte aus einer simplen pragmatischen Überlegung heraus: Die Türken sind ihr Schlüssel zur Lösung der Flüchtlingsfrage. ... Das geht so nicht! Was allein geht: Die Türken mit ihren europäischen Beitrittsambitionen daran zu gewöhnen, dass in Deutschland und Europa die Presse- und Meinungsfreiheit gilt. Die Kanzlerin hat in dieser grundsätzlichen Frage jeden Anschein zu vermeiden, hier sei etwas verhandelbar. Sehen wir vor diesem Hintergrund den Fall Böhmermann doch einmal so: Seine 'Schmähkritik' war eine Wette auf die Zukunft - verhalten sich Medien, Gerichte und Politiker so, wie ich es vorhergesehen habe? Sollte er diese Wette gewinnen, hätten wir alle verloren.“
Böhmermann führt deutsche Behörden vor
Dass es sich bei Böhmermanns "Schmähkritik" um einen "bewusst verletzenden Text" handelt, wie Kanzlerin Merkel sagt, ist nur die halbe Wahrheit. Das mit Obszönitäten gespickte Gedicht sei nur Mittel zum Zweck, glaubt die linksliberale Tageszeitung Der Standard:
„Böhmermann führt die deutschen Behörden und allen voran Bundeskanzlerin Angela Merkel am Nasenring vor. Denn während sich die Kommentatoren fast ausschließlich über die deftige Wortwahl ereiferten, schenkte kaum jemand der Einleitung des Beitrags die Beachtung, die sie verdient: Böhmermann geht es gar nicht um Erdoğan, es geht darum, die Grenzen der Meinungsfreiheit aufzuzeigen. Mit seinem Co-Moderator Ralf Kabelka diskutiert er die Frage, was Satire darf und was nicht. Schmähkritik ist verboten, ist man sich einig: wenn es nicht um inhaltliche Kritik geht, sondern nur darum, eine Person herabzusetzen. Und zur anschaulichen Demonstration, was Schmähkritik ist, rezitiert Böhmermann das Gedicht, verwahrt sich aber gegen Applaus des Publikums. So einen Text dürfe man in Deutschland keinesfalls bringen, das sei verboten.“
Gnadenlose Realpolitik der EU im Fall Erdoğan
Eine Doppelmoral im Umgang mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan kritisiert die linksliberale Tageszeitung Delo mit Blick auf die Affäre um den NDR-Satirebeitrag:
„Jahrelang hat sich die Türkei um demokratische Reformen und um eine Entspannung des Verhältnisses zur kurdischen PKK bemüht und wurde in der EU nicht ernst genommen. Nun, da das Land unter Erdoğan in ein autoritäres System rutscht und Menschenrechte und demokratische Freiheiten missachtet werden, ist die Türkei auf einmal ein Partner, für den die EU sogar bereit ist, neue Kapitel der Beitrittsverhandlungen zu öffnen. Verrückt? Schmutzig? Prinzipienlos? All das! Nur hat die Diplomatie dafür ein schöneres Wort: 'Realpolitik'. Dabei ging es noch nie um Demokratie und Freiheiten für die Menschen, sondern immer nur um nackte Interessen.“
Türken haben deutsche Medien nicht verstanden
Die Wut des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan und von Teilen der türkischen Bevölkerung über die Satire basiert auf einem Irrglauben über die deutschen Medien, erklärt das regierungskritische Internetportal Diken:
„In Deutschland fürchten sich Journalisten nicht vor Politikern oder Staatsanwälten. ... Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland hat überhaupt nichts mit seinem türkischen Pendant TRT zu tun. In Deutschland wird der öffentlich-rechtliche Rundfunk als ein Organ verstanden, das allen Teilen der Gesellschaft zu dienen hat. Deswegen kann er sich nicht wie ein Sprachrohr der Regierung verhalten. ... Die dort ausgestrahlten Kabarett-, Sketch- und Humor-Programme machen sich jede Woche über alle Regierungsmitglieder, insbesondere Merkel, lustig. Daher gibt das Erdoğan-Lied nicht die Staats- und Regierungspolitik wieder, aber Sie können sicher sein, dass die Botschaft des Liedes den Regierungsmitgliedern aus dem Herzen spricht.“
Erdoğan stellt sich selbst ein Bein
Mit seiner heftigen Reaktion auf die Satire hat sich der türkische Präsident selbst ein Bein gestellt, meint der liberale Kurier:
„Wegen eines satirischen Videoclips im deutschen Fernsehen, der auf seine autokratische Machtausübung anspielte, bestellte er den deutschen Botschafter zu einem Gespräch ins Außenministerium (eine relativ scharfe diplomatische Geste) und forderte, das Video zu löschen. Dadurch löste er eine riesige Welle kreativen Spotts im Internet aus - und bewies gleichzeitig, wie richtig die beanstandete Satire lag. Erdoğan wird lernen müssen, dass man in freien Ländern Kritik und Witz nicht einfach abdrehen kann. Und Europa darf sich die Frage stellen, an wen es derzeit Teile seiner Politik delegiert.“
Merkel muss Pressefreheit verteidigen
Die Bundesregierung muss jetzt gegenüber der Türkei klare Worte finden, fordert das Onlineportal Spiegel Online:
„Bundeskanzlerin Angela Merkel und andere EU-Politiker müssen den Spagat schaffen, einerseits die Türkei als Partner zu behalten, andererseits die eigenen Werte nicht zu verraten. Werte, die universell und nicht verhandelbar sind. ... Die Bundesregierung sollte das aber auch laut, deutlich und in aller Öffentlichkeit tun. Sie sollte jetzt nicht schweigen, sondern den konkreten Fall zum Anlass nehmen, den Wert der Presse- und Meinungsfreiheit hervorzuheben und die Achtung dieser Werte auch von der Türkei einzufordern. Andernfalls setzt sie sich dem Verdacht aus, die Sache allein aus Rücksicht auf Erdoğans Empfindlichkeiten und den Flüchtlingsdeal auf sich beruhen zu lassen.“
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