Autoritäre Systeme brauchen die Religion
Nicht nur in der Türkei gibt es Bestrebungen, der Religion wieder eine größere Rolle im Staat zu geben, erinnert Népszabadság:
„In den Ländern des ehemaligen Ostblocks erlangten die Kirchen in den vergangenen 20 Jahren ihre alte Stellung und Autorität zurück. In Russland etwa steht die Orthodoxie heute wieder im Rang einer Staatskirche. In unseren Breitengraden wurden die Kirchen auch erheblich aufgewertet. ... Je autoritärer ein System ist, desto mehr ist es auf die Unterstützung der Kirche angewiesen. Viktor Orbán sagte unlängst, dass uns das [christlich fundierte] Grundgesetz vor einer 'Islamisierung' schütze. In Polen wiederum soll das totale Abtreibungsverbot auf Druck des Klerus eingeführt werden. ... Die islamischen und christlichen Verfassungen haben heute weniger mit Tradition und Werten zu tun als vielmehr mit dem Entzug der Religionsfreiheit.“
Türkischer Säkularismus ist nicht verhandelbar
Dass Premier Davutoğlu und Präsident Erdoğan nach Kahramans Vorschlag betonten, der Säkularismus werde nicht abgeschafft, ist immerhin eine positive Entwicklung, meint die liberale Tageszeitung Hürriyet Daily News:
„Kahraman hat auf versteckte Weise gesagt, dass die türkische Verfassung auf der islamischen Scharia beruhen sollte. Es besteht kein Zweifel, dass ein Teil der Bevölkerung ihn dabei unterstützen würde, aber es ist offensichtlich, dass ein viel größerer Teil sich ihm entgegenstellen würde. Aufrufe ähnlich wie die von Kahraman haben in vielen Ländern für ernsten sozialen Unfrieden, wenn nicht gar für Bürgerkriege gesorgt. ... Die positive Seite seiner Bemerkung ist, dass sie Erdoğan und Davutoğlu dazu zwang, den Säkularismus zu unterstützen, mit ihren Beteuerungen, dass jede neue Verfassung sich darauf beziehen würde. ... Vielleicht sollten wir Karahman daher danken, dass er das Thema auf so krasse Weise aufgebracht hat, dass es zu mehr Befürwortung des Säkularismus geführt hat.“
Meinungsfreiheit gilt nicht für Religiöse
Die türkische Opposition hat insbesondere in den sozialen Medien scharf auf die Forderungen des Parlamentspräsidenten nach einer religiösen Verfassung reagiert. Eine offene Diskussion um die Rolle der Religion in der Verfassung wollte die Opposition nicht zulassen, klagt die regierungstreue, islamisch-konservative Yeni Şafak:
„Wir haben zwei Tage mit Worten voller Drohungen erlebt. Sie haben uns daran erinnert, wie schwer es noch vor zehn bis 15 Jahren war, in diesem Land religiös zu sein: wie man als Religiöser als Bedrohung angesehen und daher leicht bedroht werden kann. Und wie beim Thema Religion die Meinungsfreiheit im Namen des Laizismus beschnitten wird. ... So haben wir mit dieser sich zur Hexenjagd entwickelnden Kampagne leider auch die Chance verpasst, eine lebendige und reichhaltige Diskussion darüber zu führen, was für eine Verfassung wir haben sollten.“
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