Weniger Flüchtlinge - Krise gelöst?
Nach dem Türkei-Deal und dem Abriegeln der Balkanroute kamen zuletzt deutlich weniger Migranten in die EU. Doch hat Europa die Flüchtlingskrise damit in den Griff bekommen? Nur vordergründig, meinen Kommentatoren.
Kurzsichtig, scheinheilig und feige
Europa tut so, als gäbe es schnelle, schlüsselfertige Lösungen für das Flüchtlingsproblem, kritisiert die Tageszeitung Corriere della Sera:
„Zeit, Geduld, Weitsicht und Entschlossenheit sind gefragt. Doch ein paar Dinge könnten getan werden. Erstens: Den Flüchtlingen in ihren Heimatländern helfen und zwar ernsthaft, nicht mit den Heucheleien, dem Obolus, den Geschenken an die Diktatoren, der Entwicklungshilfe im Stil der 1980er Jahren. Schluss damit. Stattdessen sollte man lieber die internationalen Handelsregeln verändern, die, um den Status quo des Westens zu schützen, die Entwicklungsländer zur Stagnation verdammen. Zweitens: Schluss mit der Lieferung von Waffen an Länder im Krieg. Wie viele Eritreer fliehen auf Booten zu uns, nachdem sie in ihren Dörfern, in ihren Familien die 'Qualität' der Waffen am eigen Leib erfahren haben, die Rüstungsunternehmen - auch italienische und europäische - trotz des Embargos weiter an das Regime von Isayas Afewerki verkauft haben? Verlangen wir von ihnen, dass sie brav zu Hause bleiben und sich aufopfern, um unsere Waffen zu kaufen?“
Plötzlich dient Spanien als Vorbild
Es ist noch nicht lange her, da wurde Spanien von der EU für das kritisiert, was Europa nun gemeinschaftlich beschlossen und umgesetzt hat, stellt die Tageszeitung El País kritisch fest:
„Vor gerade mal einem Jahr haben die EU-Behörden die spanische Regierung noch stark gerügt wegen der Existenz von Zäunen mit Klingendraht und der sofortigen Rückführung derjenigen, die sie überwinden konnten. Der Syrienkrieg und die Flüchtlingskrise haben die Dimensionen des Problems und dessen Wahrnehmung in Europa derart verändert, dass die spanische Vorgehensweise als Beispiel, das es zu studieren gilt, wahrgenommen wird, oder sogar als Vorbild. ... So wie beim EU-Abkommen mit der Türkei betrachtet Spanien Marokko als sicheres Drittland, aber die Menschenrechtsorganisationen haben keine Möglichkeit, das Schicksal der ausgewiesenen oder rückgeführten Flüchtlinge zu überprüfen.“
Lächerliches Lob für Ankaras Flüchtlingspolitik
Das an die Türkei gerichtete offizielle Lob von EU-Ratspräsident Donald Tusk knöpft sich Giorgos Leventis vor, Direktor des Think Tanks International Security Forum. Tusk hatte zu Besuch in Ankara gesagt, die Türkei sei "heute das beste Beispiel für die Welt insgesamt, wie wir mit Flüchtlingen umgehen sollten". Dazu Leventis in der Zeitung Cyprus Mail:
„Tusks Aussage ist eine Beleidigung gegenüber den Hunderttausenden syrischen Opfern sowie den Zehntausenden türkischen und syrischen Opfern kurdischer Herkunft, die fünf Jahre türkische Einmischung und Expansionismus in der Region geschaffen haben. Die türkischen Streitkräfte haben bewohnte Gebiete im Südosten angegriffen und unschuldige Kurden getötet, Bürger des Landes. Die Kurden der Türkei klagen jeden Tag: 'Das ist Völkermord.' Die EU sollte weder die Invasion der Türkei in Syrien und Irak unterstützen, noch ihren Vernichtungskrieg gegen die eigene kurdische Bevölkerung dulden. Man sollte die eigentliche Frage stellen: Was hat die EU getan, um den Friedensprozess in Syrien zu fördern?“
Wieder ist Europa der Kontinent der Grenzen
Europas Maßnahmen in der Flüchtlingskrise erinnern auf paradoxe Art und Weise an die jüngste Geschichte des Kontinents, mahnt De Volkskrant:
„Früher schützten die Zäune das Einflussgebiet der Sowjetunion, jetzt das der Europäischen Union. Wieder hat Europa extra undurchlässige Grenzen. Vor 1989 hatten die Behörden sie errichtet, um zu verhindern, dass die Menschen aus ihren Ländern strömen. Heute wollen die Behörden verhindern, dass die Menschen in ihre Länder strömen. ... 2016 werden die Barrieren nicht von Ländern errichtet, aus denen Menschen flüchten, sondern von Ländern, die Menschen erreichen wollen. ... Die Essenz des Abkommens der Europäischen Union mit Erdoğan ist, dass die Türkei bezahlt wird, um so viele syrische Flüchtlinge wie möglich dort zu halten. Dieses 'Bezahlen für Flüchtlinge' ist ebenfalls die Umkehrung einer Praxis aus dem Europa von vor 1989: Damals wurden Länder bezahlt, um Menschen gehen zu lassen.“