Brüssel schlägt Visafreiheit für Türken vor
Die EU-Kommission hat sich für die Visafreiheit für türkische Staatsbürger ausgesprochen. Um alle Kriterien zu erfüllen, bekommt Ankara Zeit bis Juni. Haben Türken die Abschaffung der Visapflicht verdient?
Faule Europäer brauchen billige Arbeiter
Wovor die Europäer beim Thema Visafreiheit für türkische Staatsbürger eigentlich Angst haben, erklärt die Tageszeitung Cyprus Mail:
„Wen interessiert es, ob die Einwanderer Syrer, Türken, Afghanen, Somalis oder was auch immer sind? Gastarbeiter werden als billige Arbeitskräfte benötigt. Jemand, der den Döner schneidet und serviert, der die Straßen sauber macht, der die öffentlichen Busse fährt, der unsere gebrechlichen Senioren pflegt, der unseren Kindern den Hintern putzt und so weiter. Eigentlich fürchten wir Europäer uns davor, dass wir die niederen Aufgaben selbst machen müssen, wenn einmal die Einwanderer nicht mehr kommen. Einwanderer der ersten Generation haben diese stets übernommen, so dass ihre Kinder Ärzte und Rechtsanwälte, Lehrer und Fabrikmanager werden konnten. Wovor wir aber wirklich Angst haben, ist, dass die arme, unschuldige und entschlossene zweite Generation von Einwanderern uns Faule ersetzt und wir uns im Jahr 2030 selbst unsere Hintern abwischen müssen.“
Türken würden Freiheit atmen
Als logischen Schritt nach dem Übereinkommen zwischen der EU und Ankara in der Flüchtlingskrise sieht der Tages-Anzeiger die Aufhebung der Visumspflicht:
„Die Türkei hat ihren Beitrag geleistet und das Geschäft der Menschenschmuggler unterbunden. Derzeit kommen kaum mehr Flüchtlinge auf den griechischen Inseln an. Die Regierung fordert jetzt zu Recht den Preis ein, nämlich die Reisefreiheit für ihre Bürger. ... Darüber hinaus tut Visumfreiheit gut und kann durchaus subversiv wirken. Wenn türkische Staatsbürger einfacher reisen und anderswo die Luft der Freiheit atmen können, hilft das vielleicht auch gegen die autoritäre Entwicklung in der Türkei. Ängste vor einer Migrationswelle sind ebenfalls unbegründet. Reisefreiheit ist nicht Niederlassungsfreiheit. Und nur ein Bruchteil der 80 Millionen Türken hat derzeit überhaupt einen Pass, den es neben genügend Bargeld für die Einreise in den Schengen-Raum und einen Aufenthalt von maximal 90 Tagen braucht.“
Das gesamte Projekt stoppen
Eine Visafreiheit für die Türkei wäre ein Unding und muss unbedingt verhindert werden, findet Sydsvenskan:
„Es mag so aussehen, als sei die EU wegen des Asyldeals vollständig abhängig von der Türkei, doch das muss nicht zwangsläufig der Fall sein. Es lassen sich andere Wege finden, um neue unkontrollierte Flüchtlingsströme auf die griechischen Inseln zu verhindern. Zum Beispiel könnte die Union selbst im Mittelmeer vor Ägypten patrouillieren und die Aufnahme von Flüchtlingen in Griechenland verbessern - mit dem Geld, das nach dem Abkommen für die Türkei vorgesehen ist. Und es sollte - trotz allem - leichter für die Union sein, sich auf eine Verteilung der Flüchtlinge in der EU zu einigen, als einige ihrer grundlegenden Werte aufzugeben. ... Eine Notbremse ist nicht genug - die EU sollte das ganze Projekt türkische Visafreiheit stoppen.“
Syrer könnten sich einschmuggeln
Dass der EU-Türkei-Deal nichts zur Minderung des Flüchtlingsandrangs nach Westeuropa beitragen wird, glaubt die Tageszeitung Sega:
„Wenn 75 Millionen Türken frei nach Europa einreisen können, werden die drei Millionen syrischen Flüchtlinge nicht lange auf sich warten lassen. Wenn Erdoğan die EU-Forderung erfüllt, Syrer zu 'integrieren', indem er ihnen türkische Pässe ausstellt, wer kann sie dann hindern, mit ihren türkischen Pässen nach Europa und in erster Linie nach Deutschland zu reisen, wo Merkel glaubt, dass sie besonders schlaue Diplomatie mit Ankara betreibt? In letzter Zeit will Merkel allen weismachen, dass der Flüchtlingsandrang stark zurückgegangen sei, weil der EU-Türkei-Deal vom 18. März so gut funktioniere. Nichts dergleichen. Es stimmt zwar, dass inzwischen weniger als hundert Flüchtlinge pro Tag die griechische Küste erreichen, doch die Türkei hat gerade einmal 325 Flüchtlinge zurückgenommen. Der Andrang ist zurückgegangen, weil Mazedonien und andere Länder ihre Grenzen dicht gemacht und die Balkanroute geschlossen haben.“
EU setzt die Hürden bewusst zu hoch
Einen Großteil der 72 Kriterien der EU für eine Visafreiheit hat die Türkei bereits erfüllt, doch die verbleibenden kritischen Punkte könnten das Projekt scheitern lassen, erklärt die linke Tageszeitung Evrensel und wittert Kalkül:
„Die letzten noch zu erfüllenden Bedingungen spielen nach Aussage der Europäer die Rolle einer Handbremse. Mit dem derzeitigen Regime-Verständnis der Türkei können sie nicht erfüllt werden. Ginge es nach Premier Davutoğlu, würde man die AKP auf ihre Werkseinstellungen zurücksetzen und die Kriterien erfüllen. So hat er die Nachricht verbreitet, bis Juni sei das Projekt vollendet. Doch an diesem Punkt trat zutage, dass der Präsidentenpalast diese Meinung nicht teilt. ... Europa hat mit einberechnet, dass die Bedingungen aufgrund von Korruption und Unterdrückung nicht zu erfüllen sind und die daraus resultierenden Auseinandersetzungen das Thema Visafreiheit an die Wand fahren lassen werden. Nun reibt sie sich zufrieden die Hände.“
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