Neuer Premier von Erdoğans Gnaden?
Nach dem Rücktritt von Ahmet Davutoğlu wird Binali Yıldırım neuer türkischer Premier und AKP-Chef. Die Regierungspartei nominierte den bisherigen Verkehrsminister, der als treuer Gefolgsmann Erdoğans gilt, am Donnerstag für die Ämter. Für Kommentatoren steht fest, dass sich der Präsident seine Alleinherrschaft damit weiter absichert.
Faktisch ist Erdoğan schon Alleinherrscher
Wie der türkische Präsident seine Macht Schritt für Schritt ausgebaut hat, skizziert die Neue Zürcher Zeitung:
„Nach den Gezi-Protesten und den anschliessenden Korruptionsermittlungen verfolgte Erdogan seine Kritiker immer erbarmungsloser. Weil der Wahlerfolg der Kurdenpartei HDP im Juni 2015 eine absolute Mehrheit der AKP im Parlament zunächst verhinderte, spielte Erdogan die nationalistische Karte und liess den Konflikt mit den Kurden in einen neuen Krieg eskalieren. Der bisherige Regierungschef Ahmet Davutoglu konnte Erdogan auf diesem Weg nicht aufhalten, aber zumindest versuchte der Politikprofessor da und dort auf die Bremse zu treten. Der Schiffbauingenieur Yildirim, der nun als 'Erdogans Projektmanager' gilt, dürfte seinem Präsidenten keine Stolpersteine in den Weg legen. ... Gut möglich, dass Erdogan den Umweg über eine Volksabstimmung gehen muss, um seine Allmacht zu legalisieren. Faktisch aber regiert er bereits jetzt, wie er will.“
Yıldırım ist die beste Wahl
Die Nominierung von Binali Yıldırım als Nachfolger für Davutoğlu war absolut naheliegend, erklärt die regierungstreue Tageszeitung Yeni Şafak:
„Die Art und Weise, wie der alte Vorsitzende und Premier sein Amt verließ und wie Binali Yıldırım als sein Nachfolger auserkoren wurde, zeigt die unbestrittene, konkurrenzlose und gefestigte Macht von Präsident Tayyip Erdoğan. Es ist absolut offensichtlich, dass all jene, die Gegner Erdoğans sind oder das Potenzial dazu hätten, das Spielfeld verlassen haben, herausgedrängt wurden und nun nicht über die nötigen Instrumente verfügen, um Politik zu betreiben. So ist es klar, dass in der Führerschaft Erdoğans Schritt für Schritt ein neues politisches Betriebssystem entstehen wird. ... Die jetzige Wahl war für die AKP die rationalste, sie wahrt das Gleichgewicht innerhalb der Partei. Binali Yıldırıms Dienstalter, seine Nähe zum Staatspräsidenten und sein kompatibler, pragmatischer und entwicklungsorientierter Ansatz haben ihn zur ersten Wahl gemacht.“
Davutoğlu machte zu viele Fehler
Einige entscheidende Fehler machten den Rücktritt Davutoğlus unumgänglich, bedauert die Kolumnistin Hilâl Kaplan in der regierungstreuen Tageszeitung Sabah:
„So hat Davutoğlu das Präsidialsystem vor den Wahlen im Juni bis auf einige Sätze nicht verteidigt und es als Erdoğans Privatangelegenheit dargestellt. ... In den Verhandlungen mit der EU über Schengen-Visa folgte er der Formel 'nimm die Flüchtlinge, bekomm Visafreiheit', als ob Erdoğan diesen Prozess nicht schon 2013 begonnen hätte. Kontroversen Aussagen, wie der des EU-Parlamentspräsidenten Schulz, der Verhandlungspartner sei nicht Erdoğan sondern Davutoğlu, widersprach der Premier nicht. ... Die Aussage der internationalen Presse, Davutoğlu habe den Machtkampf verloren, erklärt sehr viel. Da Präsident und Parlament vom Volk gewählt werden, wäre es nötig gewesen, das System neu zu entwerfen, doch Davutoğlu versuchte um die Macht zu kämpfen.“
Erdoğan nur noch paranoid
Ahmet Davutoğlu schwor dem Präsidenten bis zuletzt die Treue, doch für Erdoğan haben Untergebene mit eigener Meinung trotzdem keinen Platz, analysiert die liberal-konservative Neue Zürcher Zeitung:
„In Erdoğans Welt aber fehlte offenbar nicht mehr viel, bis auch Davutoğlu sich ihm - wie so viele frühere Weggefährten - als Gegner offenbart hätte. Paranoid, sagen Beobachter, sei der Präsident inzwischen. Unfähig, zwischen Ratschlag und Arglist zu unterscheiden. Allein schon eigene Akzente seiner Untergebenen müssen da wie Vorboten einer Verschwörung erscheinen. In Wahrheit gehörte der 'Hodscha' ('ehrwürdiger Lehrer'), wie seine Bewunderer Davutoğlu nennen, zu den loyalsten Gefolgsleuten Erdogans. ... Was nun für die Türkei folgt, verspricht nichts Besseres: Drei glühende Parteisoldaten und ein Schwiegersohn Erdoğans sind im Gespräch für die Nachfolge. Mit Widerspruch aus den eigenen Reihen wird sich der Präsident vorerst nicht mehr plagen müssen.“
Nächster Premier wird unsichtbar sein
Der nächste türkische Premier soll nach dem Willen Erdoğans unsichtbar bleiben und für das Präsidialsystem arbeiten, meint Der Standard:
„Türkische Regierungschefs scheiterten in der Vergangenheit an Putschgenerälen. Heute ist es der Mann, der die Armee besiegte und endlich allein regieren will. Die Präsidialverfassung, die Tayyip Erdoğan für sich wünscht, scheint nur rechtliches Beiwerk. Die Türken - wenn sie es denn sehen wollen - sind nun Zeugen der Machtmaschine geworden, die der Präsident für sich in Gang setzen kann. Das Kabinett ist sein Befehlsempfänger, die Partei sein Machtinstrument, auch wenn die Verfassung die Überparteilichkeit des Staatspräsidenten vorschreibt. ... Der nächste türkische Regierungschef wird also unsichtbar sein.“
Europa leidet unter Unsicherheit in Ankara
Der erzwungene Rücktritt des türkischen Premiers Ahmet Davutoğlu ist keine gute Nachricht, kommentiert die in Bratislava erscheinende Pravda:
„Unter normalen Umständen würde eine Veränderung in der türkischen Regierungspartei kaum Interesse wecken. Würde die Türkei für die nahe Zukunft der EU nicht eine Schlüsselrolle spielen. Das Land wird zunehmend zu einer Autokratie von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Zudem fällt mit Davutoğlu der Mann, der entscheidend bei den Verhandlungen mit der EU über die Lösung der Flüchtlingskrise war. Die Unsicherheit der weiteren Entwicklung in der Türkei wird so zu einer Unsicherheit auch der weiteren Entwicklung Europas. ... Davutoğlu ist sicher kein Demokrat westlichen Anstrichs gewesen. Aber alles was nach ihm kommt, kann nur schlimmer sein. Erdoğan hat bereits zweimal versucht, in Wahlen eine solche Mehrheit zu erzielen, die ihm die Änderung der Verfassung ermöglicht. Zweifellos wird er es wieder versuchen.“
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