Brüssel verschont abermals Defizitsünder
Spanien und Portugal müssen vorerst keine Strafen wegen ihrer hohen Defizite fürchten. Die EU-Kommission vertagte die Entscheidung über Sanktionen auf Juli, auch Italien bekam weiteren Spielraum für Schulden. Haben die jetzigen Regeln zur Haushaltsdisziplin ausgedient?
Rüpel tanzen Brüssel auf der Nase herum
Für De Telegraaf hat Brüssel beim Durchsetzen der Haushaltsdisziplin versagt:
„Spanien steht unmittelbar vor Neuwahlen. Portugal hat soeben eine neue Regierung erhalten. So gibt es immer irgendwelche Gründe. Noch nie hat Brüssel eine Strafe verhängt. Frankreich und Deutschland hatten Mitte des vergangenen Jahrzehnts das Signal dafür gegeben. Als sie die Regeln nicht einhalten konnten, erweiterten sie diese einfach. Inzwischen sorgt die Europäische Zentralbank dafür, dass sich selbst die frechsten Jungs der Klasse zu sehr niedrigen Zinsen Geld leihen können. Als strenger Lehrmeister hat Brüssel total versagt. Das beweist einmal mehr, wie wichtig es ist, dass der sehr viel strengere Internationale Währungsfonds in die weiteren Unterstützungsprogramme für das zahlungsunfähige Griechenland einbezogen wird: Ohne gründlichen Umbau bleibt das Land ein Fass ohne Boden.“
Ohne neue Vorschriften funktioniert es nicht
Neue Regeln für die Währungsunion fordert das Portal Zeit Online:
„[Es] steht zu befürchten, dass die Europäer nach dem Triumph über das deutsche Spardiktat nun auf den Geschmack kommen und sich überhaupt nicht mehr an Regeln halten. ... Eine Währungsunion mit weitgehend souveränen Mitgliedsstaaten kann ohne ein Mindestmaß an Regelbindung nicht funktionieren. Wenn jeder nur noch an sich selbst denkt, ist der Euro bald Geschichte. Was folgt daraus? Europa braucht ein Regelwerk, das dem Kontinent mit seinen unterschiedlichen Kulturen und Traditionen gerecht wird. Nicht alles, was in Deutschland funktioniert, funktioniert auch in Italien oder in Spanien. Und es gibt politische Strategien, die nur im nationalen Kontext aufgehen können. ... Statt auf die Durchsetzung der bestehenden Regeln zu beharren oder aber die Vorschriften grundsätzlich zu ignorieren, ginge es also darum, diese zu europäisieren.“
Ein Regelwerk der Beliebigkeit
Wozu gibt sich die EU Regeln, wenn sie diese doch nicht einhält, fragt sich die Neue Zürcher Zeitung:
„Der Pakt ist im Verlauf mehrerer Reformen derart kompliziert geworden, dass sich für all dies (und fürs Gegenteil) rechtliche Grundlagen finden lassen - ebenso wie letztes Jahr für die grosszügige Fristverlängerung für Frankreich. Doch nachvollziehbar sind die Beschlüsse immer weniger. Beim Schuldenkriterium kommt hinzu, dass die EU die Vorgaben für den Schuldenabbau unter dem Schock der Schuldenkrise derart verschärft hat, dass sie ein hochverschuldetes Land nach Ansicht vieler Ökonomen unmöglich erfüllen kann. Doch wenn das stimmt, müssten sich die Kommission und die Mitgliedstaaten an eine Korrektur dieser Regel machen, statt einfach auf ihre Anwendung zu verzichten. Ein Regelwerk, das den Eindruck intransparenter Beliebigkeit erweckt, hat seinen Zweck verfehlt.“
Deutschland ist der Übeltäter, nicht Spanien
Als kluge Entscheidung lobt El País die Verschiebung der Sanktionen gegen Spanien:
„Zwar ist es gut, wenn Brüssel Spanien erneut zu weiteren Anpassungsprogrammen ermahnt, denn so bereitet es die kommenden Verhandlungen vor. Aber es wäre falsch, Sparmaßnahmen ohne Rücksicht auf Verluste zu erzwingen. Das Hauptproblem des Euros ist nicht das Verfehlen der Ziele in Spanien - das mehrmals als Europas Musterknabe von denselben gelobt wurde, die jetzt auf Sanktionen pochen -, sondern offensichtliche Geburtsfehler der Gemeinschaftswährung, bei der alle Mitgliedsländer mit merkwürdiger Fügsamkeit der nutzlosen rigiden Austeritätspolitik folgen. Deutschland ignoriert seit Jahren die Empfehlungen gewichtiger Institutionen (wie des IWF), seinen Überschuss zu investieren. Seine Spareinlagen nutzen niemandem, nicht einmal Deutschland selbst.“
Was für eine Heuchelei!
Eine Atempause für Portugal gibt es nur deshalb, weil die EU-Kommission gebannt auf Spanien schielt, wettert Kolumnist Fernando Sobral in Jornal de Négocios:
„Es ist eine unerträgliche Heuchelei, wenn Wirtschaftskommissar Moscovici behauptet, 'wirtschaftlich und politisch' sei momentan nicht der richtige Zeitpunkt für Strafen. ... Mit dieser Entscheidung wartet die Kommission einzig und allein den Ausgang der Neuwahlen in Spanien ab - wobei sie hofft, dass diese zugunsten von Regierungschef Mariano Rajoy ausfallen werden. ... Es handelt sich also um eine rein ideologische Entscheidung: Aus Gründen des politischen Kalküls (die der Europäischen Volkspartei EVP zugutekommen) verschiebt die Kommission die Jagd auf die portugiesische Regierung, die schon längst auf ihrer Agenda steht, doch nochmal.“
Dank Berlin zeigt Kommission Milde
Deutschlands mangelndes Interesse an Strafmaßnahmen gegenüber den Schuldensündern ist der Grund für die Milde, die die EU-Kommission diesmal auch gegenüber Italien walten lässt, glaubt La Repubblica:
„Italien bleibt 'unter Beobachtung', in Erwartung, dass die Reformen von Renzi die versprochenen Wirkungen zeigen, doch Merkel und Schäuble räumen dem Land sechs Monate mehr Zeit ein. Einer der Gründe ist politischer Natur. In einem prekären Kontext, mit dem Vereinigten Königreich kurz vor dem Brexit-Referendum, mit Hollande, dem der Front National im Nacken sitzt, mit Spanien im Abseits wegen Neuwahlen, mit den größten Ländern des Ostens auf autarken Abwegen, ist für Angela Merkel das einzig große europäische Land mit einer halbwegs stabilen und zuverlässigen Regierung Italien. ... Die andere, hinter vorgehaltener Hand, eingestandene Überlegung Berlins ist: Hätte man Italien wegen einer leichten Überziehung im Haushaltsplan eine Korrektur abverlangt, hätte die EU-Kommission Spanien und Portugal zwangsläufig bestrafen müssen.“
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