Sollte die EU Ungarn rauswerfen?
Ungarn verletze die Grundwerte der EU und sollte deshalb ausgeschlossen werden, hat Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn am Dienstag gefordert. Das Land greife die Unabhängigkeit von Presse und Justiz an und sei "nicht mehr weit weg vom Schießbefehl gegen Flüchtlinge". Über die ungarische Flüchtlingspolitik sind Kommentatoren geteilter Meinung.
Schießbefehl ist nicht unrealistisch
Der Schießbefehl gegen Flüchtlinge, von dem Ungarn laut Asselborn nicht mehr weit entfernt ist, wird in einigen Jahren in Europa Realität sein, prophezeit der Kolumnist Gwynne Dyer in Cyprus Mail:
„Ungarn ist nicht das einzige Land, das muslimische Flüchtlinge von der EU fern halten will. Rechte Nationalisten in Polen, der Tschechischen Republik, der Slowakei, Kroatien und in Österreich fühlen das Gleiche, und sie beherrschen die Regierungen in den meisten dieser Länder. ... Die Ungarn werden in naher Zukunft wohl noch nicht auf Flüchtlinge an ihrer südliche Grenze schießen. Denn das Problem ist ja noch relativ klein: ein oder zwei Millionen Flüchtlinge in der EU, die eine Bevölkerung von 500 Millionen hat, sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber mit der Zeit wird die Anzahl der Flüchtlinge steigen und die Politik ist überall anfällig für Demagogen. In 30 Jahren - vielleicht noch viel früher - könnte entlang all dieser Grenzen geschossen werden.“
Ungarische Flüchtlinge waren 1956 anders
Asselborn verwies in seiner Kritik an Ungarns Flüchtlingspolitik darauf, dass 1956 Hunderttausende Menschen aus Ungarn nach Westeuropa geflohen seien. Dieser Vergleich mit den Flüchtlingen von heute bringt die regierungsnahe Tageszeitung Magyar Idők in Rage:
„Stellen wir uns jene 6.000 ungarischen Revolutionsflüchtlinge vor [die in Belgien Zuflucht fanden], die sich angeblich so verhielten wie die heutigen 'Kriegsflüchtlinge'! Der Vergleich hinkt schon insofern, als sie sich nicht illegal über europäische Landesgrenzen hinwegsetzten, sondern im österreichischen Flüchtlingslager in Traiskirchen geduldig darauf warteten, dass sie nach gründlicher und weiser Überlegung der belgischen Regierung in Belgien aufgenommenen wurden. ... Sie fingen nicht an, kollektiv belgische Frauen zu vergewaltigen, Grenzbefestigungen auszureißen, Steine zu werfen, Gummireifen in Brand zu setzen, lauthals im Chor zu krakeelen, LKW-Fahrer aufzuhalten und auszurauben sowie Selbstjustiz zu üben, sondern sie gliederten sich artig ein.“
Asselborn spielt Orbán in die Hände
Als kontraproduktiv bewertet die Tageszeitung Die Presse Asselborns Äußerungen:
„Sein Griff zum diplomatischen Megafon nutzte genau jenem Mann, dem er damit schaden wollte: Viktor Orbán. Der populistische Aufschrei aus dem Großherzogtum zwang Amtskollegen quer durch Europa, Solidarität mit dem EU-Mitglied Ungarn zu bekunden. Vor allem aber kann Orbán nun Asselborns Angriff innenpolitisch ausschlachten. Vor dem Referendum über Flüchtlingsquoten zimmert der Premier ohnehin am Feindbild Brüssel. Die Forderung eines EU-Rauswurfs Ungarns fügt sich in die Erzählung von der abgehobenen Brüsseler Elite, die das große Ungarn kleinhalten will. ... Die EU täte gut daran, wie bisher Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, falls Ungarn tatsächlich EU-Recht bricht - anstatt wie Asselborn gleich mit dem Äußersten zu drohen. Brüssel sollte also genau jene Rechtsstaatlichkeit vorführen, die in Ungarn leidet.“
Grenzzäune sind längst Mainstream
Die Drohung mit dem EU-Ausschluss bringt die ungarische Regierung sicher nicht auf einen anderen Kurs, glaubt die Tageszeitung taz:
„Für einen Ausschluss eines nervigen Mitglieds gibt es keine Handhabe. Außerdem hat Orbán derzeit die Geschichte auf seiner Seite. Seine mit Grenzzäunen demonstrierte Abwehrhaltung gegenüber Flüchtlingen war vor einem Jahr anstößig. Heute ist sie fast schon Mainstream. Mit der Visegrád-Gruppe hat Ungarn einen Klub von Gleichgesinnten, die die 'christlich-abendländische Kultur' gegen den Ansturm der Muselmanen verteidigen will. ... Die CSU gehört im Geiste schon lange zu diesem Klub. Von offen fremdenfeindlichen Parteien, wie Front National, AfD oder FPÖ ganz zu schweigen. In ein paar Jahren könnten diese Parteien an der Macht oder an Regierungen beteiligt sein. Europa rückt nach rechts. Diese Entwicklung könnte man mit dem Rauswurf Ungarns nicht aufhalten.“
Auch Tschechen sind vom Orbánismus infiziert
Asselborn liegt richtig mit seiner beispiellosen Kritik an Ungarn, pflichtet Hospodářské noviny dem Luxemburger Außenminister bei und sieht auch Tschechien in Gefahr:
„Die EU steht und fällt mit ihrer Idee. Sie ist nicht nur eine Arena für die wirtschaftliche Zusammenarbeit, sondern eine Gemeinschaft, die Werte wie Solidarität, gegenseitige Hilfe, aber beispielsweise auch die Achtung des Rechtsstaats und Transparenz teilt. ... Zum Populismus in der Migrationsfrage neigt auch Tschechien. Im Parlament ist schon mehrfach ernsthaft darüber diskutiert worden, wie man Zäune und Barrikaden an der Grenze errichtet und wie man die Armee ausstatten muss, damit sie besser gegen Migranten eingreifen kann. Soweit muss es nicht kommen, zumal Migranten unser Land meiden. Das heißt aber nicht, dass wir nicht auch vom Orbánismus infiziert sind. Seien wir nicht überrascht, wenn jemand vorschlägt, auch uns aus der EU zu werfen.“