Totales Abtreibungsverbot in Polen gekippt
Nach den Massenprotesten in Polen hat das Parlament sich überraschend gegen das totale Abtreibungsverbot ausgesprochen. Die mit absoluter Mehrheit regierende PiS hatte den Entwurf zuvor noch unterstützt. Konservative polnische Medien ärgern sich über den Verrat an den Wählern. Andere Kommentatoren sind erleichtert, dass der Druck der Straße Erfolg hatte.
Regierungspartei betrügt ihre Wähler
Das Scheitern des totalen Abtreibungsverbots ist für Anhänger der PiS unerträglich, ereifert sich das katholische Portal Gość Niedzielny:
„Ein solches Festival an Lügen, Zynismus und Geringschätzung gegenüber den eigenen Wählern, wie es die Politiker der PiS in den vergangenen zwei Tagen gezeigt haben, hat es im polnischen Parlament schon lange nicht mehr gegeben. Zuerst haben sie zugestimmt, das Bürgerprojekt an die Ausschüsse weiterzuleiten, wo man es auch noch hätte ändern können. Später haben sie kapituliert und beschlossen, die Sache zu beenden, als mehr als zehntausend Frauen auf der Straße protestierten. ... Wie kann man so etwas bezeichnen? Als eine Verhöhnung, zynisches Verhalten oder als Farce? Mit Sicherheit nicht als eine Handlung, die von großem Verantwortungsbewusstsein gekennzeichnet ist.“
PiS zwischen Kirche und Bürgern aufgerieben
Polens Regierung hat sich mit ihrer mangelnden Distanz zur katholischen Kirche in eine Sackgasse begeben, konstatiert Der Standard:
„Dass eine wichtige politische Auseinandersetzung dermaßen hochkochen konnte, hat sich die PiS auch selbst zuzuschreiben. So hat sie etwa durch ihren Dauerstreit mit dem Verfassungsgericht, von dem sie ihre Gesetzgebungskompetenz bedroht sieht, das Prinzip der Gewaltenteilung durch einen Alles-oder-nichts-Diskurs ersetzt. ... Beim Thema Abtreibungsgesetz jedoch war die PiS-Regierung dem Reality-Check seitens der polnischen Bevölkerung ausgesetzt - und wurde dabei zwischen dieser und der teils reaktionären Kirche aufgerieben. Anders als etwa Ungarn hat das Land traditionell eine starke und lebendige Bürgergesellschaft. Eine Politik, die sich im Besitz der einzigen - vielleicht sogar göttlichen - Wahrheit wähnt, kommt da nicht immer gut an. Selbst im katholischen Polen nicht.“
Kaczyński steht vor einem Scherbenhaufen
Es war die erste große innenpolitische Niederlage für Jarosław Kaczyński, seit seine nationalkonservative PiS die Regierungsgeschäfte in Warschau übernommen hat, konstatiert Hospodářské noviny:
„Kaczyński muss stinksauer sein. Kurzsichtig ließ er eine Petition der Ultrakonservativen für ein de facto absolutes Abtreibungsverbot weit kommen. Es passte ihm ins Konzept seiner Kulturrevolution gegen die bisherige liberale Ordnung. Doch am Ende ging das alles zu weit. Das Gesetz gelangte problemlos bis ins Parlament. Jetzt gab es keine andere Option mehr, als in letzter Minute umzusteuern. ... Der Schaden ist allerdings gewaltig. Hunderttausende Polen protestierten, die Regierung verlor und ganz Europa schüttelte den Kopf darüber, wie es ein solch mittelalterliches Gesetz so weit bringen konnte.“
Warschau bleibt überholtem Frauenbild treu
Die Abtreibungsrate senkt man nicht mit dem Strafrecht, sondern indem man Frauen Perspektiven bietet, doch davon will Polens Regierungspartei nichts wissen, analysiert die Neue Zürcher Zeitung:
„Mädchen und Frauen brauchen zum einen die Perspektive, Beruf und Familie unter einen Hut bringen zu können, zum andern moralfreie schulische Aufklärung sowie leichten Zugang zu modernen Verhütungsmethoden. Auf diese Weise ist es den meisten Industriestaaten gelungen, die Abtreibungsrate auf einen Tiefstand zu senken - trotz der politischen Liberalisierung in vielen Ländern. Die PiS hingegen verfolgt mit ihrer Politik das Gegenteil. Die Einführung eines hohen Kindergelds und der Plan zur Senkung des Frauenrentenalters zementieren ebenso ein traditionelles Frauenbild wie die vom Katholizismus geprägte Sexualmoral.“