Die Türkei vor dem Verfassungsreferendum
In der Türkei läuft der Wahlkampf für das Referendum am 16. April. Mitte Januar hatte das Parlament den Weg frei gemacht für eine Abstimmung über die Verfassungsänderung hin zu einem Präsidialsystem. Mit den Stimmen der rechtsextremen MHP erzielte die regierende AKP die erforderliche Mehrheit, um eine Volksabstimmung darüber einzuberufen. Was würde das Präsidialsystem für die Türkei bedeuten?
Türkei droht Putinisierung
Sollte beim Verfassungsreferendum das Ja siegen, wird Präsident Erdoğan nach dem Vorbild Wladimir Putins das Parlament entmachten, warnt die Türkei-Korrespondentin und ehemalige Russland-Korrespondentin von Le Monde, Marie Jégo:
„Erdoğan, der sich nicht damit zufrieden gibt, Chef der Exekutive, oberster Befehlshaber der Armee und Chef der Geheimdienste zu sein, wird dann auch seine Partei, die AKP, führen können. Dies würde der bisher von amtierenden Präsidenten verlangten Neutralität ein Ende setzen. Diese Macht wird es ihm erlauben, eine direkte Kontrolle auf die Listen der künftigen Bewerber um ein Abgeordnetenmandat auszuüben. Die Parlamentswahlen werden an Substanz verlieren, da die Ergebnisse keine Auswirkung mehr auf die Zusammensetzung der Regierung haben werden. Die Minister werden sich nicht mehr den Anfragen des Parlaments stellen müssen, sondern ausschließlich dem Präsidenten und niemand anderem mehr Rechenschaft ablegen müssen. Das Parlament wird nur noch eine Registraturkammer sein - wie die russische Duma.“
Nur einen Schritt von Diktatur entfernt
Die derzeitigen Verhältnisse in der Türkei geben einen Vorgeschmack auf die Alleinherrschaft Erdoğans, die mit dem Präsidialsystem zementiert würde, klagt Journalist Hasan Cemal in der liberalen Internetzeitung T24:
„Erdoğan deklariert diejenigen als Terroristen, die beim Referendum Nein sagen werden. Gerichte verhängen Gefängnisstrafen gegen Journalisten wegen 'Terrorismus'. Es ist kaum zu fassen, aber so ist es. Ich sage: Erdoğan verstößt gegen die Verfassung. Er tritt die Neutralität mit Füßen. Er zerstört die Gewaltenteilung. Er missachtet die Freiheit. Aber es kümmert Erdoğan nicht einmal. Er ist so trunken und vergiftet von der Macht. ... Andere Stimmen in den Medien werden vom Präsidentenpalast unterdrückt. ... In der Türkei sind Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit entgleist. Bis zur nackten Diktatur fehlt nur noch ein Schritt. Wenn der am 16. April gegangen wird, dann wird der Name des Regimes Diktatur und der Name des 'Diktators' Erdoğan sein.“
Wer eine nationale Seele hat, stimmt mit Ja
Dass alle patriotisch eingestellten Bürger mit Ja stimmen werden, erklärt die regierungsnahe Tageszeitung Star:
„Eine nationale Einstellung überragt sämtliche politischen, ideologischen oder ethnischen Kategorien. Unsere kurdischen Brüder, die auf Distanz zur Terrororganisation gegangen sind und sich an die Seite des Staats gestellt haben, sind das größte Beispiel für Nationalismus. Viele Menschen, die ganz unterschiedliche politische und ideologische Einstellungen haben, deren Glaube und deren ethnischer Hintergrund ganz verschieden sind, zeigen dieselbe Entschlossenheit, gegen Bedrohungen wie Putsche, Terror und ausländische Interventionen und kämpfen gemeinsam gegen diese Gefahren. ... Wenn die verschiedenen Kreise, die eine 'nationale Seele' haben, mit Ja stimmen, wird es ein viel höheres Ergebnis geben, als die Umfragen jetzt vorhersagen.“
Der Ton macht die Musik
Zwar sind die Befürworter des Präsidialsystems in der Mehrheit, doch die Zahl derjenigen, die mit Nein stimmen wollen, nimmt zu, analysiert Hürriyet:
„Was sind die Gründe für diese negative Stimmung? Erstens: Die Nein-Sager werden als Anhänger von PKK, IS oder [der Gülen-Bewegung] Fetö dargestellt. Zweitens: die Entlassung von Akademikern durch Dekrete. ... Diese Entwicklungen verstärken negative Wahrnehmungen von einem Ein-Mann-Staat und Autoritarismus. 2011 hat die AKP eine ähnliche Situation erlebt. Damals begannen ihre Zustimmungswerte wegen einer Debatte um die ethnische Herkunft [des alevitischen Oppositionsführers] Kılıçdaroğlu zu sinken. Nachdem er dies erkannt hatte, änderte Erdoğan seine Art zu sprechen, verwendete eine weniger ausgrenzende Sprache und hat so das Blatt noch einmal gewendet.“
Die Türken kuschen
Warum die Bevölkerung so passiv auf die autoritären Entwicklungen in der Türkei reagiert, erklärt die Berliner Zeitung:
„Bestürzend ist die fehlende Reaktion der Bevölkerung - umso mehr, wenn man sie mit den Massenprotesten zum Amtsantritt Donald Trumps vergleicht. Dafür gibt es Erklärungen. Laut Umfragen wissen nur 15 Prozent der türkischen Wähler überhaupt, worum es bei den Verfassungsänderungen geht. Zudem regiert im Land die Angst. Zehntausende verloren im Zuge von 'Säuberungen' nach dem Militärputsch ihre Arbeit oder landeten im Gefängnis. Es ist fraglich, wie fair ein Referendum unter dem herrschenden Ausnahmezustand sein kann. Jetzt hat das Volk das Wort. Meinungsforscher sehen ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Doch es zeichnet sich ab, dass der begnadete Wahlkämpfer Erdoğan auch diese Abstimmung unter das Motto 'Ich oder das Chaos' stellen wird. Bisher sind ihm die Türken dann stets gefolgt.“
Ja-Kampagne wird das Land überrollen
Das Votum des türkischen Parlaments wird im Referendum bestätigt werden, fürchtet Yusuf Kanlı in Hürriyet Daily News:
„Manche Leute bewahren den Optimismus, dass Demokratie und gesunder Menschenverstand sich letztlich durchsetzen und die Türkei für die Verteidigung einer demokratischen, säkularen Staatsführung stimmen wird, anstatt das Land in eine Nahost-Autokratie zu verwandeln. Ich bezweifle das stark. Erdoğan startete den Wahlkampf zum Referendum nur wenige Augenblicke, nachdem das Parlament für die Verfassungsänderung stimmte. ... Er, die regierende AKP und sein neuer Koalitionspartner, die Partei der Nationalistischen Bewegung MHP, werden jede Möglichkeit nutzen, aufwendige Einweihungszeremonien für triviale Projekte organisieren, die gleichen Zeremonien wiederholen und alle möglichen öffentlichen Gelder dafür verwenden, um die Propaganda für das Referendum in eine massive Ja-Kampagne zu verwandeln.“