Was kann Erdoğan noch aufhalten?
Mit einer Verhaftungswelle gegen führende Politiker der kurdennahen HDP in der Nacht zu Freitag geht Präsident Erdoğan weiter hart gegen seine Kritiker vor. In der Türkei und europaweit demonstrierten Kurden am Wochenende. Während einige Kommentatoren ein härteres Vorgehen der EU und der Nato gegenüber Ankara fordern, sorgen sich andere um die Auswirkungen auf die türkische Wirtschaft.
EU wird Schweigen noch bereuen
Das Vorgehen der türkischen Regierung gegen Opposition und Medien wird von der EU nicht laut genug kritisiert, ärgert sich Delo:
„So hat die EU auch bei anderen Katastrophen und Tragödien in Europa in der jüngsten Zeit geschwiegen. Vor allem zu Zeiten der Gemetzel im ehemaligen Jugoslawien. Die europäischen Politiker in ihren gemütlichen Büros in Brüssel und in ihren Hauptstädten schreiben nur selbstgefällig mutige Tweets darüber, wie grob die Türkei eine weitere rote Linie überschritten hat, sie handeln aber nicht. Und zwar aus eigennützigem Behagen darüber, dass Präsident Erdoğan in der Türkei noch immer drei Millionen syrische Flüchtlinge beherbergt. Doch wenn Ankara anfangen wird, die eigenen Leute zu töten und zu verhaften, dann werden nicht nur Syrer, Iraker und Afghanen nach Europa drängen, sondern auch Millionen verängstigter und verzweifelter Türken. Was werden die Unentschlossenen in Brüssel dann unternehmen?“
Diplomaten aus der Türkei abziehen
Weil Erdoğan gegen international geltende Regeln verstößt, sollte der Westen diplomatische Schritte erwägen, fordert der Philosoph Gáspár Miklós Tamás in der Wochenzeitung hvg:
„Es ist ein uraltes Problem: Welchen Wert haben Moral- und Rechtsregeln, wenn sie von niemandem eingehalten werden? ... Die 'Säuberungen' Erdoğans laufen der Verfassung der Türkischen Republik zuwider. Mehr noch, sie stehen zahlreichen internationalen Abkommen und dem Gründungsvertrag der Vereinten Nationen entgegen. ... Darüber hinaus stößt die Türkei mit ihrem rechtswidrigen Vorgehen ihre internationalen Bündnispartner vor den Kopf. Das Mindeste, das wir jetzt erwarten können, ist, dass die Nato- und EU-Staaten ihre diplomatischen Vertretungen aus der Türkei zunächst einmal abziehen.“
Mehr Demokratie würde auch Wirtschaft guttun
Der derzeitige Weg der Regierungspartei AKP schadet der Demokratie und damit auch der Wirtschaft, analysiert Habertürk:
„Ohne Zweifel führten die [von der AKP einst eingeleitete] Demokratisierung und die Ausweitung von Freiheiten zu Wirtschaftswachstum sowie dem Anstieg der Lebensqualität. ... Heute haben die Gefechte in Syrien und Irak, der Terror und insbesondere der gescheiterte Putschversuch die Sicherheitsbedenken wieder in den Vordergrund gerückt. Die Agenda des Landes konzentriert sich ausschließlich auf Terror und Fetö ['Fethullahistische Terrororganisation', so bezeichnet die Regierung die Gülen-Bewegung]. Man muss sofort aus dieser Spirale aussteigen und Rechtsstaatlichkeit, Recht und Freiheiten stärken. Und man muss dafür sorgen, dass das Gerechtigkeitsgefühl nicht vergiftet wird und zu der Sicherheit und Hoffnung zurückkehren, die die Wirtschaft benötigen.“
Türkische Opposition schafft sich selbst ab
Nur aufgrund der Schwäche der Opposition schafft es Erdoğan, die Demokratie in der Türkei zu zerstören, analysiert die Süddeutsche Zeitung:
„Es trifft nicht zu, dass Recep Tayyip Erdoğan quasi im Alleingang die Demokratie in der Türkei abschafft. So groß die Versuchung auch sein mag, die Schuld für den katastrophalen Umbruch bei diesem Mann abzuladen: Dazu ist ein einzelner Mensch, selbst dieser scheinbar übermächtige Staatspräsident, nicht in der Lage. Ja, kritische Köpfe werden weggesperrt, und der Rechtsstaat zerfällt in atemberaubendem Tempo. Die türkische Tragödie zeigt sich aber auch am Zustand der Opposition. Ihr wohnt ein selbstzerstörerisches Moment inne, das seine Kraft gerade voll entfaltet und in letzter Konsequenz zur Frage führt: Wer überhaupt soll Erdoğan noch stoppen?“
Konjunktur ist Erdoğans Achillesferse
Mit seiner zunehmend autokratischen Herrschaft schwächt Präsident Erdoğan die türkische Wirtschaft und das könnte ihn entscheidend schwächen, analysiert die Financial Times:
„Erdoğans Bemühungen, die Notenbank zu zähmen, Kreditgeber zu niedrigeren Zinsen zu nötigen und die Vermögen von Geschäftsleuten zu beschlagnahmen, an deren Wohlwollen gezweifelt wird, wird dem Wohlstand langfristig schaden. Der Tourismus leidet unter einer Reihe terroristischer Attacken. Das gegenwärtige politische Klima wird das Verbrauchervertrauen untergraben. Erdoğans anhaltende Zustimmung bei den Wählern ist nicht zu bestreiten. Doch sie basiert größtenteils auf seiner Fähigkeit, die Lebensstandards der Menschen zu verbessern. Vor dem Hintergrund eines immer geringeren Wachstums stellt sich nun die Frage, ob er die Treue seiner Anhänger erhalten kann.“
Putsch gegen Freiheit und Recht
Die Festnahme und Inhaftierung führender Abgeordneter der kurdennahen HDP setzt die Zukunft der Türkei aufs Spiel, warnt die liberale Internetzeitung T24:
„Das ist ein weiterer Putsch gegen Freiheit und Recht. Ja, es ist ein weiterer Putsch, der sechs Millionen Stimmen für nichtig erklärt. Ja, es ist ein weiterer Putsch, der im Namen des nationalen Willens den Willen der Kurden für nichtig erklärt. Ja, es ist ein weiterer Putsch, der die Gefühle der Kurden für den Staat erkalten lässt und sie weiter vom Staat entfernen wird. Ja, es ist ein weiterer Putsch, der nicht in Frieden, sondern in Krieg investiert. Dieser dunkle Putsch wird erwartungsgemäß Freiheit und Recht zerstören. Wie traurig! Die Türkei entfernt sich im Innern wie im Ausland rasant vom Frieden. Die Türkei wird in einen blutigen Abgrund gezogen. Wie tragisch! Die Türkei verdient das nicht.“