Rettet Hamon Frankreichs Sozialisten?
Frankreichs Sozialisten haben Benoît Hamon zum Präsidentschaftskandidaten gekürt. Der Ex-Bildungsminister setzte sich am Sonntag in der Stichwahl gegen Ex-Premier Manuel Valls durch. Entgegen ihres ursprünglichen Ziels hat die Vorwahl Frankreichs Linke keineswegs zusammengeschweißt, stellen Kommentatoren fest und einige sehnen sich nach einer gesamteuropäischen linken Bewegung.
Vorwahl hat ihren Zweck verfehlt
Die Vorwahl hat die französische Linke nicht - wie erhofft - stärker zusammengeschweißt, konstatiert Le Point:
„Mehr als in jedem bisherigen Wahlkampf verläuft diesmal nichts wie geplant. Emmanuel Macron wird früher oder später ein echtes Programm vorlegen und somit mehr riskieren müssen, als er es bislang tat. Ob es ihm passt oder nicht: Die Wahl Benoît Hamons kann ihn entgegen seiner Absicht im linken Spektrum platzieren und nicht länger jenseits der traditionellen Gräben, wo er sich so wohlfühlt. Genau darin besteht das große Paradox dieser Vorwahl der Linken. Sie wurde nach dem Wahldebakel [der Linken] 2002 eingeführt, um Mehrfachbewerbungen zu verhindern. Das Ergebnis ist jedoch, dass Macron, Hamon und Mélenchon für das Hauptrennen an den Start gehen: drei Kandidaten [verschiedener linker Parteien und Bewegungen], die laut Umfragen derzeit auf jeweils rund zehn Prozent der Wahlabsichten kommen - sozusagen das absolute Gegenteil von dem, wofür die Vorwahl eingeführt wurde.“
Schulz sollte Hamon nicht hängen lassen
Der deutsche SPD-Kanzlerkandidat Schulz sollte europäische über nationale Interessen stellen und Hamons Vorschläge unterstützen, fordert die Tageszeitung taz:
„Eine Suspendierung der Verschuldungsgrenze von drei Prozent des BIP und einen europäisch koordinierten Mindestlohn. Die deutschen Sozialdemokraten ... könnten nun ihrer französischen Schwesterpartei unter die Arme greifen und versprechen, beide Forderungen zu unterstützen, falls Schulz Kanzler wird. ... Bisher herrscht dazu Schweigen. Und dabei wird es wohl auch bleiben: Denn Schulz ist, wenn es darauf ankommt, kein großer Europäer, sondern ein Vertreter des deutschen Europa. ... Es kann aber nicht dauerhaft funktionieren, auf europäischer Ebene nur das zu vereinheitlichen, was Deutschland nützt. ... Sollte in der zweiten Runde der Frankreich-Wahlen überraschend Marine Le Pen gewinnen, ... Schulz würde über eine 'Schande für Europa' reden - und den Mantel des Schweigens über die Mitverantwortung der SPD ausbreiten.“
Bis zum Wahltag ist alles möglich
Der unerwartete Erfolgslauf von Benoît Hamon und Emmanuel Macron macht das Rennen um die französische Präsidentschaft nicht mehr vorhersehbar, analysiert Der Standard:
„Ob wegen des Hollande-Fiaskos oder der Trump-Wahl: Ein Wirbelwind hat die französische Politik erfasst, und die Politologen fragen sich nur noch, ob sie eher von 'Implosion' oder 'Explosion' reden sollen. Wer im Mai in den Elysée-Palast einziehen und die Geschicke Frankreichs fünf Jahre lang leiten wird, scheint unter diesen Umständen schlicht unwägbar. Jahrelanger politischer Aufbau zählt nicht mehr - den Ausschlag wird im Mai die gerade herrschende politische Konstellation geben. Alles wird möglich, selbst das bisher Undenkbare. Zum Beispiel auch ein Sieg der Front-National-Kandidatin Marine Le Pen.“
Romantischer Sprung ins Ungewisse
Dass Hamon es geschafft hat, Präsidentschaftskandidat zu werden, findet Libération aufregend:
„Das ist das Romantische an der Politik. Deswegen redet man im Bistro, in der Cafeteria oder beim Mittagessen im Familienkreis am Sonntag darüber: sie ist unvorhersehbar. Das müssen wir in aller Bescheidenheit anerkennen. Vor zwei Monaten hätte noch niemand in der kleinen Welt der Kommentatoren sich vorstellen können, dass Benoît Hamon Spitzenkandidat der Sozialisten wird. ... Politik bedeutet vor allem, den Sprung ins Ungewisse zu wagen, ohne zu wissen, ob unten eine Matratze liegt. Benoît Hamon hat eine wünschenswerte Zukunft gefordert, keine vernünftige. Da ist keine Berechnung dabei. Er hat seine Botschaft nicht den Meinungsumfragen angepasst. Er ist einfach gesprungen.“
Wenig Chancen für die Linke
Weder Benoît Hamon von den Sozialisten noch Jean-Luc Mélenchon von der linken Bewegung La France Insoumise wird bei den Präsidentschaftswahlen eine große Rolle spielen, erwartet die Neue Zürcher Zeitung:
„Bei den Sozialisten hat sich Benoît Hamon durchgesetzt - ein Sieg des Linkspopulismus. Er schwelgt in linken Utopien und träumt von einer schönen neuen Welt, wo die Leute dank Automatisierung immer weniger arbeiten und von einem staatlichen Grundeinkommen leben. Links von ihm ruft Jean-Luc Mélenchon zur 'Bürgerrevolution', er will eine 'VI. Republik' errichten. Mit Hirngespinsten dieser Art eignen sich die beiden eher für Fernsehdebatten als zum Regieren. Keiner dürfte die Stichwahl erreichen.“
Die Linke muss populistischer werden
Nur wenn die Sozialisten ihre Abneigung gegen populistische und nationalistische Politik ablegen, haben sie eine Chance, meint der Ökonom Jacques Sapir in Le Figaro:
„Der erstarkende Populismus ist eine Reaktion eines immer größeren Teils der Bevölkerung - und in Frankreich der jungen Bevölkerung zwischen 18 und 35 Jahren - auf das Desaster des Neoliberalismus und der Globalisierung. Diese Situation hat die Denkweise der Sozialdemokraten in diversen Ländern, darunter selbstverständlich auch Frankreich, in ihrer Gesamtheit für ungültig erklärt. Diese Ungültigkeitserklärung äußert sich derzeit bei den Wahlen und könnte in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl zum fast vollständigen Verschwinden der Sozialistischen Partei führen. Die Linke kann sich nur erneuern, wenn sie sich dieser populistischen Wende voll und ganz stellt und aufhört, imaginäre Barrieren zwischen sozialem Fortschritt und der Nation zu errichten.“
Hamon würde PS auf schwieriges Terrain führen
Die Sozialisten werden geschwächt aus der Vorwahl hervorgehen, fürchtet El País:
„Die Chancen, an der Macht zu bleiben, haben sich durch die Vorwahl zur Bestimmung des Präsidentschaftskandidaten noch verringert. Die beiden Kandidaten für den zweiten Wahlgang am Sonntag stehen für zwei Strömungen in der Linken, wie sie unvereinbarer nicht sein könnten. ... Aber noch beunruhigender ist die Zukunft. Sollte Hamon als Sieger aus der Vorwahl hervorgehen, führt er die Sozialisten auf ein Terrain, das andere zu seiner Linken bereits besetzt haben. ... Sich auf die traditionellen Werte zu besinnen, zeichnet den Weg in Richtung des britischen Labour-Chefs Corbyn, der immer mehr Verständnis für den Brexit aufbringt; und sich an Isolationsbefürworter und Globalisierungsgegner zu halten, ist etwas für extreme Ultras. Sind das die Alternativen der wahren französischen Linken?“
Zu radikal für Frankreich
Mit einem Kandidaten Hamon können die Sozialisten keinen Blumentopf gewinnen, glaubt Newsweek Polska:
„Hamon ist im linken Flügel der Partei beliebt. Und gleichzeitig ist er bei der Mehrheit der Franzosen sehr unpopulär - gerade weil er so radikal ist. Umfragen zufolge landet dieser Politiker der Sozialistischen Partei bei der Präsidentschaftswahl im Frühjahr nur auf dem fünften Rang. Und dabei reden wir von der Partei, die bis vor kurzem noch alles in Frankreich abgeräumt hat. ... Die Beteiligung an der Vorwahl der Linken war 25 Mal geringer als an der Präsidentschaftswahl 2012. Das ist typisch für das heutige Europa, wo die politischen Parteien immer mehr ihren Charakter als Volkspartei verlieren. Letztlich reichen die Stimmen einer kleinen Gruppe von Hitzköpfen aus, damit diese ihren Kandidaten durchbringt.“
Sozialisten haben keine Chance mehr
Gar als absolutes Desaster für Frankreichs Sozialisten bewertet La Libre Belgique das Ergebnis der ersten Vorwahlrunde:
„Die erste Runde der Vorwahl der französischen Linken entsprach dem Anblick der Partei: seelen- und ziellos. Die Parteimitglieder und Sympathisanten, die dem ersten Wahlgang zum Großteil fernblieben, haben sich nicht geirrt. Nur ein umfassender Erfolg in Sachen Beteiligung hätte dem Sieger eine gewisse Legitimität und der Bewegung eine neue Dynamik verleihen können. Doch der blieb aus. Die Bilanz ist erschütternd. Frankreichs sozialistische Partei geht so geschwächt wie nie zuvor aus diesem Wettkampf hervor. Diejenigen, die geneigt waren, den Aufrufen [des parteilosen Kandidaten] Emmanuel Macron oder [des Kandidaten der linken Bewegung La France Insoumise] Jean-Luc Mélenchon zu folgen, haben keinen Grund mehr zum Zögern.“
Macron ist der wahre Sieger
Von einem Sieg Hamons gegen Ex-Premier Valls würde vor allem der unabhängige Kandidat Emmanuel Macron profitieren, glaubt Financial Times:
„Macron könnte viele Stimmen der gemäßigten Linken für sich gewinnen, die sonst sein Rivale Valls erhalten hätte. Er könnte außerdem eine größere Chance haben, die Stichwahl zu erreichen, wenn es Hamon gelingt, einige Wähler der Arbeiterschicht zurückzugewinnen, die zum Front National abgewandert waren. Dennoch hat Macron einen harten Kampf vor sich, weil es ihm an politischer Erfahrung und an einer Parteibasis mangelt. ... Er könnte Unterstützung von führenden Funktionären der Sozialistischen Partei erhalten. Doch das wäre nicht nur ein Vorteil, denn diese könnten versuchen, seine Agenda mitzubestimmen. Um seine Unabhängigkeit zu bewahren, muss Macron damit beginnen, seine politischen Pläne detailliert darzulegen.“
Endlich mal kein Rechtsruck
Hamons mögliche Kandidatur wäre trotz geringer Siegchancen wohltuend für Frankreich, schwärmt der Schriftsteller Jérôme Leroy in Causeur:
„Sie zeigt schlicht und einfach, dass die Linke zwar links ist, aber eine Linke, die sich erneuert und nicht zögert, gegen das anzuschwimmen, was uns tagtäglich als ein nach rechts orientiertes Frankreich präsentiert wird. ... Wie erholsam war es doch, endlich einmal den Wahlkampf eines Kandidaten zu verfolgen, der sich entschlossen hat, das Land nicht nur in Bezug auf Sicherheit, Identitätskampf, Arbeit als unüberwindbaren Wert und eine notwendige moralische Aufrüstung zu definieren. ... Benoît Hamon wird rechts und im Zentrum verabscheut und nervt die, die sich linker wähnen als er. Dabei ist er unendlich viel innovativer als Macron. ... Er hat ein wenig frischen Wind ins Land gebracht. Und im erdrückenden und hoffnungslosen politischen Kontext unserer Zeit war das alles andere als einfach.“
Die Partei ist längst gescheitert
Egal, welcher der beiden jetzt noch möglichen Kandidaten am nächsten Sonntag gewählt wird - die Partei hat längst verloren. Das erklärt Le Figaro:
„Der Sieg von Benoît Hamon oder Manuel Valls löst die Probleme der sozialistischen Partei nicht. Dem einen wie dem anderen steht am Wahlabend die Demütigung bevor, in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen auszuscheiden. ... Ausscheiden oder später auf jeden Fall abgewählt werden, das ist das peinliche Dilemma, vor dem einer der beiden Männer kommenden Sonntag, fünf Jahre nach Hollandes Wahlsieg, stehen wird. Der Präsident sagte damals: 'Veränderung jetzt!' Heute gilt wohl eher: 'Vernichtung jetzt!'“
Die Idee hat noch nicht ausgedient
Dass man den Sozialisten in Frankreich noch eine letzte Chance geben sollte, findet Libération:
„Muss man die sozialistische Partei abschreiben? ... Vielleicht ist das unvermeidbar, und die letzte Stunde der Sozialisten hat geschlagen. Aber das linke Lager hat die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben und sollte gut nachdenken, bevor es sich seinem Schicksal ergibt. Wenn der gewählte Kandidat in einem Monat nicht überzeugt und in Misskredit steht, dann wird es an der Zeit sein, das alte linke Lager für tot zu erklären. Bis dahin aber sollte man ihm noch eine Chance einräumen - und zwar nicht dem Parteiapparat, sondern der Idee der politischen Linken. Sie hat noch nicht ausgedient.“
Vorwahlen sind was für Schwächlinge
Wenn eine Partei ihre Kandidaten erst wählen muss, zeigt dies, dass sie keinen vernünftigen Anführer hat, kritisiert ABC:
„Die französischen Sozialisten irren sich gewaltig, wenn sie glauben, ihre schwerwiegende Identitäts- und Richtungskrise mit Vorwahlen für den Präsidentschaftskandidaten lösen zu können. Der Hauptgrund dafür, dass es keinen natürlichen Kandidaten gibt, liegt schließlich darin, dass sich Präsident François Hollande nicht zur Wiederwahl stellt, um dem offensichtlichen Wahldebakel zu entgehen. ... Die sozialistischen Vorwahlen bescheinigen keine gesunde Demokratie, sondern sind im Gegenteil ein klares Anzeichen für die schwere Krankheit des französischen Sozialismus, da weder die amtierende Regierung noch der aktive Kern der Partei auf herkömmliche Art und Weise einen klaren Anführer hervorgebracht haben.“