Wo steht der Brexit-Prozess nach einem Jahr?
Großbritannien und die EU starten am heutigen Montag die zweite Runde ihrer Brexit-Verhandlungen. Erstmals geht es um konkrete Inhalte, wie finanzielle Forderungen und die Zukunft von EU-Bürgern in Großbritannien und von Briten in der EU. Ein Blick in Europas Kommentarspalten erweckt den Eindruck, dass ein Jahr nach dem Votum für den Austritt wenige Dinge geklärt sind.
London und Brüssel sollten Remain verhandeln
Nach den Parlamentswahlen sollten Verhandlungen über einen Verbleib in der EU nicht ausgeschlossen werden, erklärt der britische Ex-Premier Tony Blair in La Repubblica:
„Eine große Zahl der Wähler hat sich gegen den harten Brexit ausgesprochen und Theresa May explizit das von ihr geforderte Mandat verweigert. … Eine rationale Bewertung müsste die Option einschließen, über den Verbleib zu verhandeln. … Der Sieg von Macron verändert die politische Dynamik der EU. Die Länder der Eurozone werden ihre Wirtschaftspolitiken integrieren und Europa wird unvermeidbar aus einem engen Kreis und einem lockereren, breiteren Kreis bestehen. Die europäischen Führungskräfte - darüber konnte ich mich in Gesprächen versichern - sind bereit, Veränderungen in Betracht zu ziehen, die London entgegenkommen, auch was die Personenfreizügigkeit anbelangt.“
Nichts als Baustellen
Der Brexit gestaltet sich komplizierter als erwartet, erklärt Jutarnji list:
„Die europäischen Regeln wurden per Gesetz widerrufen. Dann meldete sich Labour mit seinen sechs Forderungen (eine davon die, dass die Europäische Charta für Menschenrechte weiterhin gilt), woraufhin Schottland und Nordirland eine klare Ansage forderten, welche der widerrufenen Regeln auch sie betreffen. ... Ein Brexit-Befürworter meinte, dass ein Austritt aus Euratom Irrsinn wäre, doch wenn man die EU verlässt, verlässt man automatisch auch Euratom. Dann wird der Handel mit Isotopen jedoch komplizierter und teurer. Easyjet hat am Freitag in Wien eine Firma registriert, die nach dem Brexit den europäischen Markt bedienen soll. Die Banken verlassen die City Richtung Frankfurt, Paris, Amsterdam; Anwaltskanzleien und Versicherungen Richtung Dublin.“
Easyjet bald in Wien? Ein schwacher Trost
Dass der Billigflieger Easyjet seine Geschäfte innerhalb der EU künftig von Wien aus steuert, ist kein Grund zum Jubeln, warnen die Salzburger Nachrichten:
„Wer sich darüber freut, dass sich im Zuge des britischen EU-Austritts das eine oder andere Unternehmen in Österreich ansiedelt oder eine EU-Institution hierher kommt, hat nicht verstanden, dass sich das langfristig bloß als Scheingewinn entpuppen könnte. Großbritanniens Abgang aus der EU wird Nettozahler wie Österreich nicht nur Geld kosten ... und möglicherweise Exporte auf die Insel behindern. Viel schwerer wiegt und bisher kaum diskutiert ist, dass sich mit dem Brexit das informelle Machtgefüge in der Union verlagert. ... All dies dürfte Österreich nach dem Brexit mehr schaden, als ein paar zusätzliche Airline-Büros [am Flughafen] Wien-Schwechat Nutzen bringen.“
EU läuft zur Höchstform auf
Die EU verhält sich gegenüber Großbritannien überraschend konsequent, freut sich das Online-Portal des öffentlich-rechtlichen Fernsehens LSM:
„Normalerweise handelt die EU post factum, doch diesmal denkt Europa tatsächlich über seine Zukunft nach dem Brexit nach. Es gibt eine Diskussion darüber, wie man das Loch im EU-Budget eventuell mit Agrarsubventionen stopfen kann. Und die Position der EU zur Frage der Bürgerrechte wird streng und unnachgiebig sein. Es gibt ebenfalls eine Diskussion über die Rolle der EU in der Welt und ihre Beziehungen zu den USA. Und auch von den Briten werden bestimmte Handlungen und Haltungen gefordert. Und nicht in ferner Zukunft, sondern sofort, um die Unsicherheit für die Zukunft zu verringern.“
Britische Regierung vollkommen überfordert
Die schlechte Verhandlungsführung der britischen Regierung im vergangenen Jahr hat die Chance auf einen guten Brexit-Deal verbaut, schimpft der frühere EU-Unterhändler Steve Bullock auf Blog Europp:
„Die fehlende Bereitschaft, Bürgerrechte [für EU-Ausländer] zu garantieren war schlecht, aber die Drohung, über die Sicherheitskooperation zu feilschen, war ein Moment entsetzlicher moralischer Schwäche. Die EU27-Führer möchten ein Abkommen, aber die Herangehensweise der britischen Regierung hat jegliches Bedürfnis nach Lösungen für Großbritannien zu schauen, verpuffen lassen. Warum die Mühe, wenn sie anscheinend ohnehin kein Abkommen wollen? ... Die Chancen für die Regierung in 21 Monaten ein Abkommen zu erreichen - von einem guten ganz abgesehen – sind minimal. ... Für die britischen Unterhändler ist der Komplexitätsgrad zu hoch, sie sind schlecht vorbereitet, ihre Botschaften kontraproduktiv.“
Ein verlorenes Jahr
Die Neue Zürcher Zeitung sieht die Zeit seit dem Brexit-Referendum als
„verschwendetes Jahr, weil man in der entscheidenden Zukunftsfrage einer Klärung nicht nähergekommen ist. Symptomatisch dafür war, wie die Wähler im zurückliegenden Wahlkampf darüber von den Politikern mit Plattitüden abgespeist wurden. Und aus dem Wahlresultat selber - keine Partei hat eine absolute Mehrheit - ist ohnehin kein irgendwie geartetes Mandat herauszulesen, schon gar nicht, was die Umsetzung des EU-Austritts betrifft. Die herrschende Stimmung lässt sich deshalb am ehesten als eine tiefe Verunsicherung beschreiben. Kaum je in der jüngeren britischen Geschichte schien so ungewiss, wohin in einer so wichtigen Frage die Reise gehen soll.“
Der Brexodus hat schon begonnen
Wie wegen der großen Unsicherheit der Exodus aus Großbritannien seinen Anfang nimmt, beschreibt Il Sole 24 Ore:
„Der Traum von London erlischt in den Gesprächen unter Freunden, in den Pubs, bei Diskussionen über Arbeitsplätze. Plötzlich wächst der Wunsch, das Königreich von Elizabeth zu verlassen, jetzt da die populistische Welle auf dem Kontinent abgeebbt, das Wirtschaftswachstum zurück ist und das Pfund fällt. … Nach Jahrzehnten scheint der Wind gedreht zu haben, nun bläst er fort vom Königreich hinüber zum Kontinent. Die britische Regierung hat enttäuscht, die Unsicherheit ermüdet und die Vorhut der Nowheres [die nirgends fest zu Hause sind] setzt sich in Bewegung, noch vor den Banken, neugierig den Macron-Effekt zu entdecken oder die neue Vitalität anderer Metropolen, die die Krise überstanden haben.“
Jetzt die polnischen Migranten umwerben
Rzeczpospolita rechnet damit, dass in naher Zukunft immer mehr Polen Großbritannien verlassen werden und wittert eine große Chance:
„Wenn wenigstens ein Teil der über 900.000 Landsleute nach Polen zurückkehrt, verbessert das die Lage auf dem nach Personal dürstenden Arbeitsmarkt und trägt zur Aufrechterhaltung des vierprozentigen Wirtschaftswachstums bei. Deswegen sollte die Regierung ihnen die bestmöglichen Bedingungen für die Rückkehr schaffen, etwa indem sie die Vermittlung von Stellen- und Wohnungsangeboten fördert. ... Es wäre schlimm, wenn unsere Politiker es nicht schaffen, die Gelegenheit zu nutzen, die ihnen der Brexodus bietet und es ihnen nicht gelingt, die Landsleute, die Großbritannien verlassen, zurück nach Polen zu ziehen.“
Eine Demokratie darf ihre Meinung ändern
Dass die Briten ihre Meinung zum Brexit noch ändern, hofft Timothy Garton Ash in El País:
„Höchstwahrscheinlich wird es zu einem weichen Brexit kommen. Aber dann sollten wir uns fragen: Wozu der ganze Aufwand? ... Wir Europäer unter den Briten sollten unsere Kräfte bündeln und bei der Vorlage der entkoffeinierten Verhandlungsergebnisse vor dem Parlament fragen: 'Warum sollten wir uns damit abfinden, zur zweiten Wahl zu gehören, mit allen Nach- und nur wenigen Vorteilen, wenn wir doch in der EU bleiben und volles Mitspracherecht behalten könnten?' Schließlich gilt, was der jetzige Brexit-Minister David Davis vor ein paar Jahren einmal treffend sagte: 'Wenn eine Demokratie nicht in der Lage ist, ihre Meinung zu ändern, ist sie keine Demokratie mehr.'“